Junge Freiheit-Artikel "Böse Menschen haben keine Lieder"
Aus InRuR
Böse Menschen haben keine Lieder
Kultur
22. Juli 2005
JF-Online
https://jungefreiheit.de/kultur/2005/boese-menschen-haben-keine-lieder/
Er gehört einfach dazu, ohne Protest kann Gesellschaft nicht funktionieren.
Protest ist Bote und Vermittler zwischen gesellschaftlichen Teilbereichen, die sonst sprachlos gegeneinander blieben.
Man mag das, was der Zusammenbruch des Sozialismus weltweit übrigließ, „Projekt Moderne“ oder „funktional ausdifferenziertes System“ nennen, „Demokratie“ oder schlicht und einfach und immer noch nicht falsch „Kapitalismus“ – es ist erschreckend, aber wahr: Hier und jetzt scheint ein Anderes, ein Außen nicht mehr denkbar, in dessen Namen, von dessen Ort aus gegen das schlechthin Bestehende protestiert werden könnte, ohne daß sich der Protestierende lächerlich machte.
„Wollte man auch für Protestbewegungen noch eine Funktion angeben“, vermerkte Niklas Luhmann, der deutsche Buchhalter der Systemtheorie, trocken, „so könnte man sagen: es geht darum, die Negation der Gesellschaft in der Gesellschaft in Operationen umzusetzen.“
Wer kaputtmachen will, was ihn kaputtmacht, der repariert in Wahrheit an dem Ganzen herum, das bekanntlich das Unwahre ist.
Wer dagegen ist, der ist, wogegen er ist.
Das Hasensubjekt läuft und läuft, und das Igelsystem ist immer schon all hie.
Trübe Aussichten für Protest, für Protestbewegte, vor allem aber: trübe Aussichten für Protestsongs.
Der „Rebell“ heutzutage muß ja geradezu darum betteln, daß sein Verhalten auch als Zeichen der Ablehnung verstanden wird.
Zwar sind die bösen Buben endlich weg, und man kann wieder sicher Mercedes fahren, ohne daß die Dinger immer explodieren.
Aber wo bleibt der Mensch, wo darf er tauschen, da unsere leistungsorientierte Gesellschaft sein Talent nicht honorieren will? Schuld sind die Herren Politiker, alle doof und nur auf unser Geld aus.
Schuld sind aber auch die Verlierer, die sich immer auf die anderen verlassen, ihr Leben nicht geregelt kriegen und den Gewinnern ein schlechtes Gewissen verpassen.
Und schuld sind, nicht zuletzt, die lieben 68er, die jetzt gehen dürfen und sich eine schöne Zeit machen und untereinander erzählen, wie das alles so war in den tollen Tagen.
Nur anrufen sollen sie bitte, bitte nicht.
Vielleicht rufen wir an … Jedes Lied provoziert Fragen nach Text und Kontext Sind die Lieder – sorry, die Songs – der Ärzte, der Lassie Singers, von Jan Delay, Funny van Dannen, Helge Schneider oder Peter Licht eigentlich Protestsongs? Oder sind sie Protestsongs über, vielleicht gar gegen Protestsongs? Was ist das überhaupt: ein Protestsong? Ein Protestsong, meint der 34jährige George Lindt, Inhaber des Berliner Labels Lieblingslied Records, protestiere gegen politische Verhältnisse welcher Art auch immer.
Das paßt auf alle und keinen, reicht aber allemal hin, eine streng subjektive Auswahl zu begründen, die Lindt aus 200 bis 300 in Frage kommenden Protestsongs für seine Doppel-CD getroffen hat, aus einem Herzensbedürfnis geboren, zu einer Herzensangelegenheit gemacht, mit Herzblut getränkt, wie es sich für ein Konzept-Label gehört.
Entstanden ist in der Tat eine Kreuzfahrt durch die Geschichte des deutschen Protestsongs, zumindest der letzten sechzig Jahre, mittenrein und voll daneben.
Da kommt zusammen, was nie zusammenwachsen wird; der Blödelsong kommentiert den Klassiker, der den Blödelsong bereits kommentiert hat, als der noch gar nicht geschrieben war.
Jedes einzelne Lied provoziert Fragen nach Text und Kontext, den Lindt in einem 28seitigen Beiheft so gut er kann zu erhellen sucht, ohne auch nur deren eine erschöpfend zu beantworten.
Unerfahrene bekommen Einsicht, Erfahrenen jedoch wird nicht jede Entscheidung Lindts gleich einsichtig erscheinen.
„Hier und jetzt“, so der Titel der einen CD, ist die Lage unübersichtlich.
Der Protest ist sich selbst historisch geworden.
Das traditionelle Muster, Betroffenheit gegen Entscheidung zu stellen, zieht nicht mehr.
Ein leicht veränderter Text des Liedes „Kinder – Sind so kleine Hände“ von Bettina Wegner zu neuer Musik der Berliner Rechtsrockgruppe Spreegeschwader oder Hannes Waders deutsche Nachdichtung „Es ist an der Zeit“ gänzlich unverändert können heute ebensogut der rechten Protestkultur Ausdruck geben wie gestern der linken.
Als Protestsong funktionierte Frank Schöbels „Wir brauchen keine Lügen mehr“ im letzten Jahr der DDR, Ralph Siegels „Ein bißchen Frieden“ in den Jahren des Wettrüstens – dagegen funktioniert „Die Gedanken sind frei“ seit zwei Jahrhunderten unverändert. Von den vorgenannten Titeln hat es lediglich „Ein bißchen Frieden“, mit dem Nicole Hohlich ihre Schlagerkarriere begründete, auf George Lindts Kreuzfahrtschiff geschafft.
Da ihm rechte Lieder als „unrechte“ Lieder gelten, unterwirft Lindt die Böhsen Onkelz und Störkraft ebenjener Zensur, die den geschäftlichen Erfolg beider Bands lange Zeit garantiert hat.
Dagegen vermöchte er in gefälligem „HipHop gegen Rechts“ der Goldkettchenträger und Erweckungsmystagogen, die Anfang der Neunziger die Pop-Charts stürmten, weniger die brillante Vermarktungsstrategie als vielmehr den uneigennützigen Protest gegen deutsche Zustände zu erkennen.
Nun ist von einem künstlerischen Statement Ausgewogenheit nicht zu fordern, das von der tödlichen Hetzjagd auf den Mosambikaner Alberto Adriano ausgelöst und an die gleichgültige deutsche Mehrheitsgesellschaft – wer auch immer darunter fällt – gerichtet wurde.
In dem Lied „Adriano (Letzte Warnung)“ aber, verfertigt von afrodeutschen Musikern, die sich unter dem Namen „Brothers Keepers“ zusammengeschlossen haben, sind Gewaltphantasie und -aufruf absichtsvoll ineinander verwischt: „Dies ist so was wie eine letzte Warnung, denn unser Rückschlag (sic!) ist längst in Planung. (…) Denn was ihr sucht, ist das Ende, und was wir reichen, sind geballte Fäuste und keine Hände, euer Niedergang für immer, und was wir hören werden, ist euer Weinen und euer Gewimmer“ usw. usf. Der Text, von einem nicht-afrodeutschen deutschen Verein vorgebracht, nennen wir ihn einmal „Landser“, wäre umgehend indiziert worden und von den Ladentischen verschwunden, auf Schulhöfen allerdings zum begehrten Kaufobjekt avanciert.
Was die Musik auf den Text betrifft, so drückt sie zwar nicht den behaupteten Willen zum Zurückschlagen, aber doch wenigstens den Willen zum „Gewimmer“ adäquat aus.
Die Identität der Rapper von Advanced Chemistry gar scheint um alles in der Welt von ihrem grünen Paß mit ’nem goldenen Adler abzuhängen.
Klingt so Protest? Von Wolfgang Neuss bis zu Otto Waalkes Von der Protestkultur Made in GDR und Neufünflands weiß Lindt nicht viel zu vermelden.
Immerhin läßt er sie 1989 spät, aber gewichtig mit „Born in GDR“ der Cottbuser Gruppe Sandow beginnen, allerdings bereits 1994 mit einem sarkastischen „Willkommen Deutschland“ der „Linkssentimentalen Transportarbeiterfreunde“ enden.
Je einen Titel von „Feeling B.“ und Gerhard Gundermann, dessen künstlerischer Rang erst in jüngster Zeit erkannt wird, dazugenommen, erscheint sie einzig auf Protest gegen und Klage über die Art und Weise des Anschlusses reduziert.
Wie der Protest, will er nicht wirkungslos verhallen, seine gesellschaftliche Funktion reflektieren muß, so muß der Protestsong immer auch das „Genre“ Protestsong thematisieren und der Protestsänger die ihm zugewiesene gesellschaftliche Rolle.
Die ist nicht zu verwechseln mit der, die er sich selber zugedacht hat.
Die meisten Songs auf der CD „Hier und jetzt“ sind als Rollentexte geschrieben, deren Trägern sowohl die Charaktermasken der Kohl- und Nach-Kohl-Ära als auch die der Achtundsechziger, Nach- und Schein-Achtundsechziger wie angegossen sitzen.
Solcherart Gefühlsgemenge hat Tocotronic mit ihrem Lied „Das Unglück muß zurückgeschlagen werden“ hintersinnig und wohl auch hinterfotzig, subversiv also, in Text und Musik aufgehen lassen und dabei den Protestsong im alten Sinne weit hinter sich gelassen.
Früher, als die Unübersichtlichkeit noch übersichtlich schien, da standen die Kriterien für einen beinharten Protestsong fest:
Der Sänger ist Transmissionsriemen der Idee, und die Idee wird zur materiellen Gewalt, wenn sie die Massen ergreift.
Auf der Bonus-CD „Bleibende Werte“ läuft die Zeit rückwärts, beginnend mit Andreas Doraus „Demokratie“, lalalalala, von 1988, bis hinunter zur Urmutter aller bundesdeutschen Protestsongs, dem „Lied vom Wirtschaftswunder“ von 1956, mit dem Wolfgang Neuss und sein Partner Wolfgang Müller der „angelernten Republik“ genüßlich in die angefütterten Eiterbeulen stachen.
Das konventionelle Kulturprogramm auf Kapitän Lindts Hurtigroute bestreiten Johann Michael Söllner, Wolf Maahn, Bettina Wegner, Nena Kerner, Ina Deter, Konstantin Wecker, Udo Lindenberg, „Papa“ Degenhardt, Hanns Dieter Hüsch, die Gruppen BAP, Ton Steine Scherben, Slime. Der ostfriesische Protestsong wird von Otto Waalkes würdig vertreten, und „Karl der Käfer“ macht auch nach über 20 Jahren noch „Gänsehaut“.
Mit detektivischem Spürsinn hat Lindt Trouvaillen aufgespürt, wegen derer sich die Anschaffung der Sammlung allein schon lohnen dürfte.
Da hat sich doch wirklich und wahrhaftig eine Aufnahme des Liedes „Sonne statt Reagan“ erhalten, das Joseph Beuys 1982 geschrieben und öffentlich – na ja: – gesungen hat! Protestsongs, die nicht von vielen gesungen werden, sind keine.
Ernst Buschs „No Susanna“ von 1952 zeigt die ganze Unmöglichkeit des Unterfangens, an eine Tradition des Protestsongs anknüpfen zu wollen, die 1933 unrettbar gekappt ward.
Bis zu seinem Tod 1980 hat der Schauspieler und Sänger unverdrossen Protestlieder geschrieben und gesungen – ein bestauntes und belächeltes Fossil aus dem Zeitalter der Arbeitermusikbewegung.
Und auch ein weiteres Mal mußte das Parodieverfahren wirkungslos verpuffen, läßt sich doch eine Melodie nicht so ohne weiteres umfunktionieren.
Im Auftrag der BBC sang die emigrierte deutsche Sängerin und Schauspielerin Lucie Mannheim 1944 einen neuen Text auf Norbert Schultzes „Lili Marleen“, der mit der Aufforderung schließt, den Führer an die Laterne zu hängen, die dann in einem anderen Deutschland stünde.
Nicht diese hier vorgestellte Fassung hat das Lied vom Ruch der Landserschnulze befreit.
Seine kongeniale Interpretation durch Marlene Dietrich, die selbstverständlich den originalen Text von Hans Leip verwandte, hat das Lied zu einem Friedenslied gemacht, weil sie die Sehnsüchte ernst nahm, welche die Melodie des Lieds trägt, und zu einem Protestlied, weil sie eine Rangfolge der Opfer und ihres Leids nicht zuließ.
Protest ist zwar umsonst, aber nicht kostenlos Nicht allein aufgrund persönlicher Vorlieben und Aversionen hat Kapitän Lindt auf seiner Kreuzfahrt mehr als nur eine Anlegestelle ausgelassen.
Einige Titel mußten ihrer mangelnden Tonqualität wegen ausscheiden, andere aus Gründen des Urheberrechts. Protest ist zwar umsonst, aber nicht kostenlos.
Einigen Bands, deren Managements oder Plattenfirmen erschien die Mitwirkung nicht opportun.
Ein preußischer Ikarus wollte für die „handelsüblichen Prozentsätze“ gar nicht erst zu seinem Sturzflug abheben.
Dagegensein verpflichtet.
Gerade ihr Provisorisches, auch Kurzschlüssiges, macht die Geschichte durchlässig für Eigenerfahrung und Gegenentwurf des Hörers, die sie erst zu einer ganzen werden lassen.
Er darf einen wenn auch verengten Blick zurück auf die Folklore der Marktwirtschaft und ihre Subjektideologien werfen, deren Echo von den Mauern des Bunkers namens „Offene Gesellschaft“ mit jedem Mal schwächer widerhallt.
Doch noch immer und immer weiter sind es Protestsongs, die uns zu Ende modernisierten Warensubjekten erklären, warum wir und der Kapitalismus nicht zusammenkommen, warum er an uns scheitern muß, wie wir an ihm scheitern müssen.
Funny van Dannen, der große Kleinkünstler der Berliner Kneipenszene, singt es frei heraus: „Ich will den Kapitalismus lieben, ich will und kann es nicht, und das wird so weitergehen, bis einer von uns zusammenbricht.“
Die neuen sozialen Bewegungen sind nicht mehr auf Parteien fixiert, nicht mehr auf Nationalstaaten und auch nicht mehr auf die Oasen des Freihandels inmitten der verwüsteten Welt, die er produziert.
Es ist ihr verblüffender Verzicht auf Repräsentation, ihr subjektloses, ihr beliebiges Sein, welche sie so unberechenbar machen und so schwer verorten lassen.
Bilden sie keine eigentlichen Protestformen aus, weil sie bereits diesseits jenes Ganzen operieren, das zu seinem Selbsterhalt ihrer Proteste bedurfte? Haben sie darum keine Lieder?
Foto: „Protestsongs.de“ (LC 107 48, Vertrieb: Alive) www.lieblingslied-records.de