"Das Beste gleich zum Jahresanfang: Die große Literaturzeitschriftenrundschau!" Von Kai Pohl

Aus InRuR

03.01.2013 / Feuilleton / Seite 12
2000 Gramm gegen die Verwurstung
(Das sind mehr als ein Viertel des Gesamtgewichts aller acht hier besprochenen Zeitschriften!) im Orginal als Fußnote
Das Beste gleich zum Jahresanfang: Die große Literaturzeitschriftenrundschau!
Von Kai Pohl
http://anonym.to/? http://www.jungewelt.de/2013/01-03/006.php
Die Auflagenzahlen verraten es: Literaturzeitschriften gehören zu den Marginalien unter den Druckerzeugnissen. Mit meist nicht mehr als 1000 Stück legen die nachfolgend begutachteten Presseorgane echte Minderheitenprogramme auf. Ihre Wirkungskreise sind überschaubar, ihre Fans fühlen sich aber offenbar wohl in den Leseecken jenseits der Massenkultur – denn ohne Fans würde es sie nicht geben.

Edit ist mit 1600 gedruckten Exemplaren »eine der einflußreichsten Literaturzeitschriften im deutschsprachigen Raum«, verkündet die Redaktion auf editonline.de. Im Editorial der im November erschienenen 60. Ausgabe werden drei Minimalerwartungen an eine Literaturzeitschrift formuliert: »Erstens sollte sie regelmäßig erscheinen, zweitens als solche wiedererkennbar sein und drittens mit dem nachlassenden Elan ihrer Macher wieder eingehen.« Die Macher der Edit haben sich den »komplizierten Spaß« seit 1993 nicht verderben lassen. Im aktuellen »Papier für neue Texte«, so der Untertitel, geht es neben Prosa und Stilometrie um den Sieg des Narzißmus-Nihilismus, der in dem Fall Mao Sugiyama aufscheint: »Im April 2012 ließ der 22jährige Japaner seine Genitalien medizinisch abschneiden, beauftragte einen Chefkoch, Penis, Testikel und Hodensack anzuschmoren und servierte diese, mit Pilzen und Petersilie angerichtet, eigens zu der besonderen Verkostung per Twitter geladenen Gästen.« Guillaume Paoli erläutert im flotten Exkurs »die unappetitlichen Grundtendenzen der gegenwärtigen Gesellschaft«. Kompliziert wird der Spaß im Ecopoetics genannten einzigen Lyrikteil des Heftes. Hier sinniert Forrest Gander über die müßige Frage, ob Dichtung ökologisch sein kann, und Anja Utler stolpert über poetisch-ökologische Aufbruchskanten. Schön, daß zum Ende wenigstens Gary Snyder »kalte Schneeschmelze aus einem Alubecher« trinkt.
Psychosexuell
Bereits im März erschien Ausgabe 14 der Krachkultur. Die Zeitschrift gibt es ebenfalls seit 1993. Sie kommt aber seit längerem nur noch alle zwei Jahre heraus. Trotzdem zählt sie sich unverzagt zu den Urkräutern auf der »Hoffnungswiese der Literatur-Revolution« (Die Zeit, 1997). Zu Recht. Mit dem Abdruck des Essays »Pornographie in Norwegen von der Wikingerzeit bis heute« des norwegischen Anarchisten Jens Bjørneboe beweist Krachkultur, daß Zeitschriftentexte einen Anspruch auf Exklusivität haben. Anders als bei Tageszeitungen sind die Beiträge in literarischen Zeitschriften nicht der Willkür der Ereignisse, sondern den Intentionen der Autoren und Herausgeber unterworfen. Beim Lesen des erwähnten Essays aus dem Jahr 1967 entsteht der Eindruck, »als würde der Autor über die psychosexuelle Gesinnungslage des Utoya-Attentäters oder des durchschnittlichen NPD-Anhängers von heute berichten« (aus der Pressemitteilung).
Nebel flußabwärts
In der eher des Antifaschismus verdächtigen Zeitschrift Krautgarten, dem Organ der »deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens«, finden sich in der Novemberausgabe Gedichte des bekennenden Rechten und »Möchtegern-Breivik« (Marsborn) Martin Mollnitz alias Heino Bosselmann. In einer Polemik, die der Freitag am 6. Mai druckte, machte der Autor kurzen Prozeß mit der »neuen Lyrik« (oder dem, was er dafür hält): Sie sei das »Diktat des Mittelmäßigen«, ein »Übermaß an hohlem Geräusch«, »armseliges Gedöns« etc. Mollnitz’ Gedichte im Krautgarten belegen, daß sie selbst an den von ihm beklagten Mißständen leiden. Augenfällig ist die »bemühte Naturlyrik«: »über kahlem feld … nebel überall nebel … das wiehern verendender pferde / und raben raben raben … die krähen haben die äcker für sich … es nebelt nur so … die aale ziehen flußabwärts«, etc.

Nicht nur zahlreiche Leser, auch manche Verfasser von Gedichten begreifen Lyrik als ein Medium für den entrückten, gehobenen Sprachgebrauch. Im Krautgarten manifestiert sich das in der Hälfte aller Gedichtbeiträge, wo in beinahe jedem Poem das Wort Himmel auftaucht, und fehlt der Himmel, dann sind es wahlweise das Blau, die Wolken, die Sonne, das Licht bzw. Firmament, Horizont, Äther, Abglanz, Geblitz, Leuchten etc. Manches geht aber gut los. So läßt der frischgekürte Walter-Bauer-Preisträger André Schinkel in seinem Dreiteiler »Die Dünung des Leibs« zwei Wesen »übereinander herfalln«, bis »die Nippel glühn«, bis – leider, leider – die Verse »An den Gebresten / Der Tage« versanden. Die Textnegatorin
Kämpferischer kommt die Randnummer mit ihrer 5. Ausgabe daher. Gleich im Vorwort markiert sie »die Verteidigung des Menschen gegen seine Verwurstung und Verdinglichung« (Heiner Müller) als Aufgabe der Dichtung. Der Leser mag selbst prüfen, wieweit die Texte im Heft diesem Anspruch gerecht werden. Sehr schön ist jedenfalls das Interview »Nein« von Mara Genschel, der »wohl erste[n] und einzige[n] Textnegatorin deutscher Sprache«. Das Problem der Randnummer besteht in ihrem Gewicht: 530 Gramm* bei 256 Seiten, die allerdings sehr großzügig gesetzt und aus schwerem Bilderdruckpapier sind, so daß sich durchaus Einsparpotential ergeben hätte!
Lied der Naturforscher
Ein denk- bzw. merkwürdiges Sonderheft der Blätter für Literatur und Kritik Signum aus Dresden ist zur Jahresmitte erschienen, gefördert von der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen, zu dessen Mitgliedern im Fachbeirat Literatur der Herausgeber Norbert Weiß gehört (falls sich jemand wundert …). Gewidmet ist es dem 1992 freiwillig aus dem Leben gegangenen Schriftsteller Manfred Streubel. Für den unbefangenen Leser bleibt es ein Rätsel, wieso Streubel, weder »Dissident« noch »Mitläufer«, als »Außenseiter« bezeichnet wird; derselbe Streubel, der Anfang der 1950er Jahre, nach einem Volontariat bei der jungen Welt, als Redakteur der Kinderzeitschrift Frösi tätig war; derselbe Streubel – Hausautor beim Mitteldeutschen Verlag, ein gutes Dutzend Bücher, diverse Preise, Mitarbeit beim Film, Lyrikvertonungen, mehrere aufgeführte Theaterstücke, der den Text zum Lied der jungen Naturforscher schrieb – vielleicht ein früher Fall von Ecopoetic!
Spannendes Gespräch
Wer es eher unterhaltsam mag, dem sei der Punchliner empfohlen, der sich in seiner Novemberausgabe (Nr. 9) der Satire und Slam Poetry widmet und der seinen Sitz im niedersächsischen Kuhkaff Meinen hat. Die zweimal jährlich erscheinende Storyatella mit Kurzgeschichten aus Berlin erfreut das Auge mit einem dezenten Reichstag-»be burning«-Signet auf dem Cover.

Zu guter Letzt gibt es die Idiome, die im Klever Verlag erscheinenden Hefte für Neue Prosa, deren fünfter Almanach in diesem Sommer herausgekommen ist. Darin findet sich u.a. ein spannendes Gespräch, das Florian Neuner mit Jürgen Ploog führte. Der Altmeister der deutschsprachigen Cut-up-Literatur gibt darin zu bedenken: »Es gibt kaum Verlage, die sich um Abseitiges, Unangepaßtes kümmern, kaum Zeitschriften, die sich Andersartigem annehmen. Die deutsche Mentalität neigt dazu, sich romantisch zu stilisieren. Sie will anders und dagegen sein, ohne das zu artikulieren und sich dazu zu bekennen.«