Berliner Juden und Israelis warnen vor politischer Zensur

Aus InRuR

Initiative Recherche und Reflexion

über InRuR

********

Kategorien / Rubriken:

Boycott, Divestment and Sanctions

Intifada Fraktion

Themenkomplex Islam, Nahost, Judentum, Antisemitismus

Berlin

Berliner Juden und Israelis warnen vor politischer Zensur
"Jüdische Stimme" 25. Oktober 2016

In einem offenen Brief stellen sich 100
israelische und jüdische Kulturschaffende in Berlin gegen den Ruf nach politischer Zensur bezüglich des Israel-Palästina-Konflikts
und erklären ferner ihre Solidarität mit dem Ballhaus Naunynstraße
sowie dem palästinensischen Kunstfestival After the Last Sky.
Hiermit dokumentieren wir den Brief, der von mehreren unseren Vereinsmtigliedern unterschrieben wurde

Offener Brief israelischer und jüdischer Kulturschaffender in Berlin

Wir, jüdische und israelische Kulturschaffende, Wissenschaftler_innen und Aktivist_innen,
die in Berlin leben oder hier aktiv sind,
nehmen hiermit Stellung
zu den beunruhigenden Äußerungen mehrerer Organisationen, Journalisten und Politiker,
die das Recht auf freie Meinungsäußerung
in Bezug auf den Israel-Palästina-Konflikt in Frage gestellt haben.

Viele von uns haben Israel verlassen,
weil wir das zunehmend beängstigende Klima
der Einschüchterung von Kritiker_innen der Besatzungspolitik
und der zunehmenden Einschränkungen der Redefreiheit
nicht mehr ertragen können oder wollen.
Seit mehreren Jahren versucht die rechtsnationalistische Netanjahu-Regierung,
progressive und palästinensische Stimmen zum Schweigen zu bringen.
So wurden öffentliche Gelder für israelisch-palästinensische Kulturinstitutionen gestrichen, oppositionelle Künstler_innen seitens rassistischer Organisationen bedroht und kritische Stimmen in Universität und Medien wurden und werden unter extremen Druck gesetzt.

Wir haben immer gehofft und es in den vergangenen Jahren teilweise auch so erlebt,
dass Berlin ein Ort ist,
an dem Debatten möglich sind.
Angesichts der bedrückenden Entwicklungen in Israel,
sind wir entsetzt, nun auch in dieser Stadt zu erleben,
dass kritische Äußerungen zu Israels Besatzungspolitik
ähnlich unsachlich als “Israel-Hass”
oder „antisemitisch“ gebrandmarkt werden.
Noch befremdlicher ist es für uns,
dass die Rufe nach politischer Zensur auch von Parteimitgliedern und Organisationen kommen,
die sich keineswegs in der rechtsnationalistischen Ecke verorten,
oder sich sogar als Linke bezeichnen.

Anlass für unseren Brief ist die aktuelle öffentliche Kampagne
gegen das Ballhaus Naunynstraße
und das von ihm mitgetragene palästinensische Kunstfestival “After the Last Sky”,
in dem angeblich “anti-israelische Hetze” toleriert wurde.
Einmal abgesehen von den Verleumdungen in diesem Zusammenhang,
das Festival oder einzelne Beiträge seien gewaltverherrlichend gewesen,
begründeten Medien und Politiker im Übrigen den Ruf
nach einer Streichung öffentlicher Gelder
mit kritischen Äußerungen jüdischer und palästinensischer Mitwirkender_innen
über den Staat Israel im Rahmen des Festivals.
Des Weiteren wurde die tatsächliche
oder angebliche Unterstützung der BDS-Bewegung
durch Kuratorinnen des Festivals skandalisiert.

Wir, die Unterzeichner_innen, sind durchaus unterschiedlicher Meinung darüber,
ob Begriffe wie „Apartheid“, „Kolonialismus“ und „ethnische Säuberung
in Bezug auf die Geschichte und Gegenwart des Staates Israel
zutreffend oder nützlich sind;
wir haben auch unterschiedliche Positionen zum palästinensischen Aufruf nach Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen gegen den Staat Israel;
wir stellen aber fest,
dass die Diskussion über diese Begriffe
und die Argumente der BDS-Bewegung,
legitime Bestandteile einer öffentlichen Debatte
über die politische Situation in Israel-Palästina sind.
Eine politische Zensur gegen Einzelpersonen und Kulturinstitutionen,
die einen Raum für Kritik an der israelischen Politik anbieten,
lehnen wir grundsätzlich ab.
Die Einschüchterungseffekte
die solche Drohungen nach sich ziehen,
halten wir für desaströs
für die Diskussionskultur in einer freien Gesellschaft.
Sie verhindern im Übrigen die notwendige Debatte
über die Mitverantwortung der Bundesrepublik Deutschland
für die Situation im Nahen-Osten,
insbesondere für die seit fast 50 Jahren andauernde israelische Besatzung.

Als Juden und Israelis, die nicht umhin können,
sich mit dem Themenkomplex Nahost zu beschäftigen
und sich von den Entwicklungen in der Region
stets betroffen fühlen,
empfinden wir solche Rufe nach Einschränkung der Meinungsfreiheit
als extrem bedrohlich
und auch gegen unsere eigene künstlerische und akademische Freiheit gerichtet.
Die leichtfertige Instrumentalisierung von Antisemitismus-Vorwürfen
gegen linke Israelis, Palästinenser_innen und andere,
sehen wir zudem als schwerwiegendes Hindernis
bei der Bekämpfung von tatsächlichen antisemitischen Tendenzen,
die angesichts des Rechtsrucks in Deutschland immer notwendiger wird.

Wir sind uns sehr wohl bewusst,
dass sich in politischen Äußerungen über Israel und Palästina,
Antisemitismus oder anti-muslimischer Rassismus manifestieren können.
Gerade deshalb betonen wir die Bedeutung einer Diskussion,
die Menschenrechte und Gleichberechtigung in den Mittelpunkt stellt.
Dabei sind uns die Grundrechte der Palästinenser_innen genauso wichtig,
wie die der jüdisch-israelischen Bevölkerung.
Das palästinensische Kunstfestival „After the Last Sky“,
das von migrantischen und anti-rassistische Künstler_innen organisiert wurde,
scheint uns genau diese Werte zu repräsentieren.
Deshalb erklären wir unsere volle Solidarität
mit dem Ballhaus Naunynstraße
und mit den Kuratorinnen des Festivals.

Liste der Unterzeichner_innen