Linker Antisemitismus ist unmöglich

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Gerhard Zwerenz

"Die Zeit"

linker Antisemitismus

1976

9. April 1976

Linker Antisemitismus ist unmöglich
Von Gerhard Zwerenz
Die Zeit 9. April 1976

archive.is Version

Ein Stück, das nicht aufgeführt wurde und dessen Text nicht mehr erhältlich ist, ein Film, der nicht produziert werden soll, endlich ein Roman, der 1973 erschienen ist, rufen den Vorwurf des Antisemitismus hervor.
Ort der Handlung ist jeweils Frankfurt.
Man polemisiert aber nur gegen die literarischen Texte, nicht gegen die zugrundeliegenden Realien. Warum wohl? In Frankfurt trieb die Bauspekulation ihre giftigsten Blüten.
Wer das kritisiert und den jüdischen oder israelischen Anteil daran unerwähnt ließe, machte sich unglaubwürdig.
Wer nicht unglaubwürdig werden will, wird vom CSU-Medienexperten Purzer, vom FAZ-Mitherausgeber Fest und vom Frankfurter SPD-Oberbürgermeister Rudi Arndt des "linken Antisemitismus" bezichtigt.

Der Antisemitismus war und ist rechts, national, biologistisch, rassistisch.
Die Juden werden als mindere Rasse diskriminiert, kriminalisiert, verfolgt, bestraft, vernichtet.
Man verbot den Juden die meisten Berufe und trieb sie ins Geldgeschäft.
Die Nazis dann lenkten den Unmut des Volkes vom Kapital ab und auf die Juden hin. Das nationale deutsche Kapital stempelte die Juden zu Sündenböcken, so ließ sich leicht avisieren.

Ein "linker Antisemitismus" ist unmöglich.
Linke Kritik kann nicht rassistisch, biologistisch, nationalistisch argumentieren.
Wo sie, wie in Frankfurt, auf Juden oder Israelis trifft, geht das nicht gegen "die" Juden, sondern gegen verfehlte und unmenschliche Baupolitik.
Getroffen wird die falsche deutsche Politik.
Heinz Galinski, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde, sollte nicht Fassbinder rügen, wie er vor drei Jahren mich rügte, sondern diejenigen, die den literarischen Figuren die Vorlage geradezu aufdrängten.
Wenn von zehn wichtigen Maklern in Frankfurt acht jüdischer Herkunft sind, kann ich nicht nur über einen Perser schreiben, den es auch gibt.
Der kritische Realismus ist unschuldig an seinen Gegenständen, ebenso wie die jüngeren Generationen der Deutschen unschuldig am Dritten Reich sind. Fassbinder und den jüngeren Deutschen irgendwelche Schuld am Antisemitismus aufzuhalsen, ist irrsinnig.

Zur ästhetischen Seite: In der ZEIT teilte die von mir hochgeschätzte Lyrikerin Hilde Domin mit, sie habe bei Erscheinen meines Romans "Die Erde ist unbewohnbar wie der Mond" ihr Befremden gegen die "Dosis Judenhetze" geäußert.
Leider vergaß Hilde Domin zu erwähnen, daß sie bei dem Telephonat auf meine Fragen hin zugeben mußte, mein Buch gar nicht gelesen zu haben.
Ähnlich werden die meisten Angriffe gefahren – in Unkenntnis der Fakten und Texte.
Marcel Reich-Ranicki recherchierte bei mir fernmündlich den "Fall" Fassbinder, erkundigte sich auch nach dem Filmdrehbuch, schreckte angesichts der 365 Seiten zurück; so griff dann sein Chef Fest nur das Fassbinder-Stück an.
Man hätte nach aufmerksamer Lektüre differenzierter argumentieren müssen.
Da druckt die FAZ lieber ein paar Fassbinder-Zitate ab, die kurzum antisemitisch erscheinen sollten und mußten.
Ich erbiete mich, den gleichen "Antisemitismus" durch Zitatauswahl einem unserer meistgelesenen Schriftsteller zu entnehmen.
Dennoch halte ich diesen Autor (ich meine Simmel) nicht für einen Antisemiten.
Auch ist, was die Figur eines Buches sagt, nicht der Meinung des Verfassers gleichzusetzen.
Will ein Nazi Juden vergasen, will das noch nicht der Autor, der den Nazi schildert.
Sowas lernt man schon in der literarischen Klippschule.
Warum wird desgleichen jetzt so bemüht verdrängt?

Eine andere Frage ist, was Juden oder Israelis über sich selbst reflektieren und sagen; die komplexe Problematik ist in meinem Roman wohl enthalten und in Fassbinders Stück, dramaturgisch verkürzt, so poetisch wie provozierend bildhaft gemacht.
Hier besteht die Chance der offenen und ehrlichen Durchleuchtung zum Nutzen beider Seiten.
Die kritischen Realisten werden kraft der geschilderten unleugbaren Fakten, die sie beschreiben, zu westlichen Dissidenten, weil unsere Obrigkeiten literarische Kritik als politische Feindschaft empfinden.

Für Rationalisten gibt es keine Judenfrage als Rassenproblem.
Es gibt arme und reiche, linke und rechte Juden.
Für mich ist nicht wichtig, ob einer Jude ist, wohl aber, ob er rechts oder links steht, also die Gewalt stärkt oder mindert, die Emanzipation der Unterdrückten hindert oder fördert.
Befremdlich allein ist dabei, wie schnell auch jüdische Mitbürger bereit sind, "den Linken" Schuld aufzubürden.
Sie sollten sich erinnern: Bevor die deutsche Rechte Juden ermordete, ermordete sie Sozialisten und Kommunisten.
Warum wohl?