System lebt von Angst

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"Junge Welt" vom 07.07.2015, Seite 4 / Inland
»System lebt von Angst«
Zweieinhalb Jahre auf Null: Hartz-IV-Aktivist Ralph Boes hungert erneut öffentlich
Von Susan Bonath

Vor zwei Monaten fasste Richter Jens Petermann am Sozialgericht Gotha einen Beschluss:
Hartz-IV-Beziehern für das Nichtbefolgen von Auflagen die existenzsichernden Leistungen zu kürzen oder streichen, sei verfassungswidrig.
Er leitete sein Urteil nach Karlsruhe weiter.
Die ursprüngliche Beschlussvorlage, die der Kläger eingereicht hatte, gäbe es ohne Ralph Boes wohl nicht.
Denn auf sein Bestreben hin hatten der Bundesrichter a.D., Wolfgang Nešković, und die Juristin Isabel Erdem das Papier erstellt.
Damit habe Boes sein Ziel erreicht, die Sanktionspraxis höchstrichterlich prüfen zu lassen, sagte er 58jährige am Montag im Gespräch mit jW.
Vier Jahre nach seinem »Brandbrief« an die Regierung, Ministerien und die Bundesagentur für Arbeit
hat der Berliner Erwerbslose am 1. Juli seine vierte öffentliche Hungeraktion gestartet.
»Ich bin seit 2012 dauersanktioniert,
seit zweieinhalb Jahren auf Null gesetzt und existiere nur von Darlehen,
die mir Unterstützer gewähren«, erklärte er.
Dies könne nicht unbegrenzt so weiterlaufen.

Boes legt Wert darauf, dass seine Aktion nicht als »Hungerstreik«, sondern als »Sanktionshungern« angesehen wird.
»Ich zeige schlicht die Konsequenzen auf, die jedem drohen, dem das Amt Leistungen entzieht.« 
Sprich: Wer kein Geld hat, kann sich nichts zu essen kaufen.
Vier Jahre lang habe er das Jobcenter Berlin-Mitte »provoziert«,
also »Vermittlungsangebote« in Jobs oder Maßnahmen mit Verweis auf die Grundrechte auf Menschenwürde und freie Berufswahl abgelehnt.
Sein Plan: Das Amt sollte ihn mit Strafen überziehen, die nach dem Zweiten Sozialgesetzbuch (SGB II) rechtmäßig sind.
»Nur so kann man grundsätzlich gegen die Praxis vorgehen«, so Boes.
Außerdem habe er »die Folgen von Hartz IV« in die Öffentlichkeit bringen wollen.

Sein Ansinnen ging auf: Zehn Sanktionen in Folge verhängte das Jobcenter gegen ihn.
Acht mal davon stellte sie die komplette Leistung ein.
Die Bescheide hat er auf seiner Internetseite veröffentlicht.
Seine Miete und Krankenversicherung werde durch seine Unterstützerinitiative getragen.
Ebenso seine Reisen zu Vorträgen. Das
Lebensnotwendige könne er nur durch freiwillige fremde Hilfe beschaffen.
Boes spricht von Darlehen: »Sollte mir das Amt irgendwann Geld nachzahlen müssen, werde ich es denen, die es wünschen, zurückgeben«, sichert er zu.
Was übrigbleibt, werde die Initiative, die ansonsten für ein bedingungsloses Grundeinkommen streitet, für Projekte einsetzen.
Über seine vergangenen Hungeraktionen hatte die überregionale Presse berichtet.
Dass er dabei unter anderem als »Hartz-IV-Schnösel« (Bild) und »Deutschlands frechster Hartz-IV-Schnorrer« (n-tv) verunglimpft wurde, trägt er mit Fassung.
»Andererseits habe ich sehr viel Solidarität erfahren«, meinte er.

Jetzt will Boes »beweisen, dass Hartz IV rechtswidrig ist«.
Dafür habe er genügend Material gesammelt.
Die ständige Angst, die Lebensgrundlage entzogen zu bekommen, treibe Menschen in die totale Abhängigkeit, sagte er.
Jobcenter könnten Erwerbslose und Aufstocker mit der Androhung von Sanktionen zu jeder Tätigkeit zwingen, »und sei sie auch noch so unsinnig«.
»Das System zieht seine Kraft aus der Todesangst der Menschen«, bekräftigte er.
Da müsse es jemanden geben, der sich dadurch nicht erpressen lässt.
Das will der 58jährige auch weiterhin nicht.
Für ihn geht es am 21. Juli vor dem Sozialgericht Berlin weiter.
Dort werde seine Klage gegen seine erste Sanktion vom Oktober 2012, eine Kürzung um 30 Prozent, verhandelt.
»Das ist der erste ausgesprochene Gerichtstermin in meiner Sache«, erklärte er.
Widersprüche und Klagen gegen Hartz-IV-Kürzungen haben, anders als bei anderen Behördenstreits, keine aufschiebende Wirkung.
Sanktionen werden, wie bei Ralph Boes, dennoch durchgesetzt.
Derzeit habe ihm das Amt sogar 200 Prozent Abzug auferlegt, sagte er.
Das bedeutet: Nicht nur für drei, sondern sechs Monate bekommt er keinen Cent.
Das Verhalten des Berliner Amtes beschreibt er als »totale Blockade«.
»Man geht nicht auf meine Argumente ein und wirft mir politisches Handeln vor.«

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