Von den Rändern her

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"Junge Welt" 19.01.2015, Seite 15 / Politisches Buch Von den Rändern her
Gerd Bedszent hat ein Buch über »periphere Staatlichkeit« geschrieben.
Von Joachim Maiworm

Buchrezension

Aus: Ausgabe vom 19.01.2015, Seite 15 / Politisches Buch Von den Rändern her Gerd Bedszent hat ein Buch über »periphere Staatlichkeit« geschrieben. Von Joachim Maiworm

Zerfallender Staat? Ein kolumbianischer Polizist fotografiert Päckchen mit Kokain in Riohacha, 16. April 2010 Foto: John Vizcaino/Reuters

»Gescheiterte Staaten« stehen seit einigen Jahren im Fokus auch der linken politischen Analyse. Der Berliner Journalist Gerd Bedszent untersucht deshalb die ökonomischen und politischen Konstellationen in Ländern, die in den Medien meist nur beiläufig registriert werden, für den Autor jedoch einen umfassenden Prozess von globaler Bedeutung veranschaulichen. Es geht um nichts weniger als den »Zusammenbruch der Peripherie«, den er in weiten Teilen Afrikas, Lateinamerikas und zunehmend auch Osteuropas zu entdecken glaubt. Anhand der Darstellung der krisenhaften Entwicklungen in Jamaika, Kolumbien, dem Kosovo, Libyen, Mali, Mexiko, der Ukraine und Zypern erhebt Bedszent den Anspruch, eine alle Regionen durchziehende Logik der Zerstörung aufzuzeigen, deren Ursache er in der Endkrise des warenproduzierenden Systems sieht.

In den Artikeln, die in den letzten drei Jahren in der Frankfurter Vierteljahreszeitschrift Big Business Crime sowie in dieser Zeitung erschienen sind und nun aktualisiert vorliegen, bewegt er sich in den Spuren der sogenannten Wertkritik und von dessen profiliertestem Vertreter, dem 2012 verstorbenen Robert Kurz. Der hatte 2003 in seinem Buch »Weltordnungskrieg« die Globalisierung als Zersetzungsprozess der herrschenden Produktions- und Lebensweise entschlüsselt. Der sich abzeichnende Zusammenbruch der globalen Ökonomie der Warenproduktion impliziere zugleich die Endkrise des politischen Weltsystems, die zur Herrschaft mafiotischer Clans und einer anarchischen Plünderungsökonomie führe.

Indem Bedszent den seit den 90er Jahren etablierten Begriff des »Failed state« gegen die Mainstreamdebatten im heutigen Wissenschaftsbetrieb wendet, verdeutlicht er die Vielschichtigkeit des Zusammenhangs von Staatskrise, illegaler Ökonomie und entgrenzter Gewalt. Nach herrschender Auffassung bedarf es in erster Linie einer Stärkung der Staatsapparate, um die ökonomischen und politischen Probleme zu lösen; globale Abhängigkeitsverhältnisse werden zumeist ausgeblendet. Der Autor widerspricht diesem Diskurs. Nach der Phase der Entkolonialisierung und Nationalstaatsbildung sei in vielen Ländern die sogenannte nachholende Modernisierung an den Zwängen des Weltmarkts gescheitert. Ihrer finanziellen Grundlage beraubt, zerfalle die Funktionsfähigkeit von Verwaltung, Justizapparat und Polizei. Die kriminelle Ökonomie expandiere, die letzten legalen wirtschaftlichen Akteure zögen sich zurück, kurz, der Staatszusammenbruch werde Realität. Militäreinsätze gegen die »von der kapitalistischen Moderne selbst erzeugten Monstren« seien in der Folge eine autoritäre Form der Krisenbewältigung, die auch hierzulande bereits zu einer außerparlamentarischen Bewegung verängstigter Kleinbürger geführt habe.

Am Beispiel Kolumbiens spricht Bedszent von einer Aushöhlung des Staates als Folge krimineller Gewalt. Er verweist aber zugleich darauf, dass die neoliberalen »Reformen« Ende der 80er Jahre nur »im Windschatten paramilitärischen Terrors« durchgesetzt werden konnten und die Regierung gemeinsam mit rechten Milizen Drogengeschäfte abwickelt. Vor dem Hintergrund solcher Kooperationen hat die Tendenz zur Entstaatlichung von Politik und Bürgerkrieg in dem südamerikanischen Land jedoch wenig mit einem tatsächlichen Zerfallsprozess zu tun, wie der Autor behauptet. Denn der Paramilitarismus ist eben nicht das Resultat eines Staatsscheiterns, hat er sich doch nur in enger Symbiose mit der Staatsmacht entwickeln können. Offizielle Akteure treiben die Aufweichung des staatlichen Gewaltmonopols sogar voran, indem sie Folter und Repression gleichsam »outsourcen«. Bedszent erwähnt, dass Mitte der 60er Jahre die Existenz solcher bewaffneten Strukturen zwischenzeitlich sogar per Gesetz legalisiert wurde. Die Paramilitärs bewegen sich insofern eher in einer Grauzone zwischen Legalität und Illegalität und werden von Amtsinhabern zumindest in Teilen instrumentalisiert. Einerseits halfen sie, das staatliche Gewaltmonopol durchzusetzen, andererseits untergraben sie die Rechtsstaatlichkeit, was wiederum als Argument für die Militärhilfe durch die USA im Namen des »Antiterrorkriegs« diente.

Für die These der zerfallenden Staatlichkeit spricht dagegen, dass einzelne Guerillagruppierungen in der Vergangenheit große Gebiete Kolumbiens kontrollieren und sich als Ordnungsmächte etablieren konnten, weil sie von der lokalen Bevölkerung als den Alltag organisierend und damit legitim anerkannt wurden. In seinen Beiträgen über Jamaika und Mexiko berichtet der Autor über kriminelle Kartelle, die einzelne Regionen beherrschen, so dass in diesen Fällen von »Staat« sicherlich im juristischen, jedoch kaum noch im empirischen Sinne gesprochen werden kann. Analoge Entwicklungen werden auch für den afrikanischen Kontinent (am Fall Malis) oder Osteuropa konstatiert, denn ein Auseinanderbrechen in verfeindete, sich endlos bekämpfende Regionen schließt der Autor etwa auch für die Ukraine nicht aus.

Da nach Bedszents Auffassung die Logik der Zerstörung in der Logik des warenproduzierenden Systems selbst wurzelt, ist in der Konsequenz die »periphere Staatlichkeit« jedoch nicht nur an den sogenannten Rändern des Weltsystems zu finden. Es stellt sich insofern die Frage, ob es überhaupt noch sinnvoll ist, die Unterscheidung zwischen Peripherie und Zentrum zu treffen. Wie auch immer man zu den Prämissen der verschiedenen Zusammenbruchsszenarien stehen mag: Das vorliegende Buch bietet nicht nur eine fundierte Darstellung unterschiedlicher Krisenregionen, sondern verweist auch nachdrücklich auf einen weitgehend unbeachteten Aspekt – die zunehmende Verschränkung staatlicher Institutionen und nichtstaatlicher Gewaltakteure als Ausdruck einer umfassenden autoritären Transformation der Welt(un)ordnung.

Gerd Bedszent: Zusammenbruch der Peripherie. Gescheiterte Staaten als Tummelplatz von Drogenbaronen, Warlords und Weltordnungskriegern. Horlemann Verlag, Berlin 2014, 192 Seiten, 16,90 Euro