Ghetto-Kids auf der Berliner Hinterbühne: »Intifada im Klassenzimmer« ist besser als jedes Theater

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Intifada im Klassenzimmer

2005

11. Juni 2005

Aus: Ausgabe vom 11.06.2005, Seite 13 / Feuilleton
Lange Aua-Minuten
Ghetto-Kids auf der Berliner Hinterbühne: »Intifada im Klassenzimmer« ist besser als jedes Theater

Von Alexander Reich

Milliarden Elendsgestalten auf dieser Welt können von ALG II nicht mal träumen.
Wer irgendwo verhungert, kriegt deswegen kein Asyl in Deutschland. Wenn sein Geburtsort arm dahinsiecht, hat er schlechte Karten.
Selbst wenn er’s hierher schaffen könnte: Die meisten hätten vor ihm Angst, keinen Respekt.
Westeuropäer sind hier gern gesehen, Osteuropäer weniger.
Afrikaner machen keinen Stich.
Auch Araber gelten als Todesboten, seit »9/11« mit Sonderzuschlag.

Vor einigen Tagen wurde in Berlin ein Theaterstück von größtenteils arabischen Teenagern aufgeführt.
Erarbeitet haben sie es zusammen mit Ahmed Shah,
dessen Anti-Irak-Kriegsdrama »The Story of Oily Fossile« in dieser Zeitung veröffentlicht worden ist.
Das Stück der Teenager spielt in deren Schule.
Es beginnt kurz nach dem 11. September 2001 mit offiziösem Gedenken.
Die Schüler spielen gelangweilt Taschenbillard.
Eine Stimme vom Band erklärt: »Die Trauerminute / wurde zu einer Dauerminute, / eine graue Minute, /
eine von Tränen überflutete Aua-Minute, / so eine Bauer-Minute, / keine Power-Minute, / eine stumme und taube Mauer-Minute, /
eine vom unglücklichen Anfang bis zum bitteren Ende wirklich / beschissene Scheißminute.
/ Daran dachte ich während der Trauerminute.« 
Mitleid ist keine rituelle Übung.

In den folgenden Szenen präsentieren die Schüler schlaglichtartig den Rassismus, der zu ihrem Alltag gehört wie das Salz in der Erbsensuppe.
Die Plastiktüte, die der erzdeutschen Hausfrau beim Einkaufen hinterhergeworfen wird, kostet den Araber 20 Cent.
Vom Busfahrer werden alle »anständigen Aufständischen« durchgewunken, während der Araber besser nicht lange sein Ticket sucht.
Diese Szenen sind überhöht, es läuft nicht ständig genau so, nur im Prinzip.
Als in der Schule eine Bombendrohung eingeht,
wird der Junge mit dem Bombenleger-Gen verknackt und sachgerecht gefoltert: Abdullah (Hossein Hamadani, 19).
Auch hier verdeutlichten die Schüler nur, was läuft.
In U-Haft braucht es keine Stiefel im Gesicht für Folter.


Klippschul-Didaktik

Die Klärung des Whodunit zieht sich leider etwas hin.
Den Bombenleger überführt schließlich die Jüdin Rahel (Franziska Felizetti, 13).
Sie wird von ihm dafür zusammengetreten.
Es ist ein stiller Klassenkamerad, ein Neonazi, dazu noch Bilder vom Vernichtungskrieg der Nazis auf der Dialeinwand –
das ist doch derbe Klippschul-Didaktik à la Grips-Theater, von den Schülern schnell runtergerattert.
Wen sollten sie damit belehren? Sie haben ihre Hausaufgaben ja gemacht, und jetzt? Im echten Leben haben sie ganz sicher kein Problem mit Neonazis.
Wohnt einer in der Nachbarschaft, ist er am Arsch.
Neonazis pflegen ihren Rassismus aber lieber in den »national befreiten Zonen« der Provinz; nicht im »Problemkiez« Berlin-Moabit, aus dem die Schüler kommen.

Ganz ähnlich hassen Araber die Juden, weil sie nie einen zu Gesicht bekommen usw. –
an den Rändern der Gesellschaft ist der Rassismus mordsmäßig übel.
Reprise: Er dürfte mir nichts, dir nichts heiße Luft sein, hätte die Gesellschaft keine Ränder mehr.
Einstweilen aber wird er als Unflätigkeit von denen, die obenauf sind, in Anschlag gebracht gegen die immer wie neu entdeckten »Unterschichten«.
Das Postulat »politische Korrektheit« hat diese Penner in den Ghettos nie erzogen, immer nur ausgeschlossen.
Seit das klar ist, kann Karriere machen, wer verschärfte Umerziehung anmahnt.
Grüne preisen das »bunte Treiben« auf den Sklavenmärkten noch als multikulturellen Gewinn, träumen aber schon feucht von der Koalition mit den Unionsparteien.


Angriff der Kreidefresser

Sich mit Nachdruck um »soziale Brennpunkte« zu sorgen, hat Konjunktur.
In der miesesten Lage, etwa in Westberlin nahe Mauer, konnten vor allem Türken ewig machen, was sie wollten,
solange die Drecksarbeit dazugehörte, für die sie hergeholt worden waren, mit oder ohne Deutsch oder Schleier – das war egal.
Jetzt aber sind sie ins Visier der Kreidefresser geraten, die »Menschen mit Migrationshintergrund« zu ihnen sagen.
Abdullah wird auf einem Schulfest verhaftet.
Unter den Showeinlagen dieses Festes ist ein Rap von Franziska Felizetti: »Mein Kopf gehört mir, / nicht dir oder sonst jemand. /
Mein Kopf gehört mir. / Ist es endlich klar? / Mit Kopftuch oder ohne, / was geht es dich an? / Was hast du für Probleme, / die du sonst nicht lösen kannst?« Ihr Sprechgesang hat Stil.
Sie lebt im Brennpunkt »Beussel-Kiez« in Moabit.
Mit Stolz erklärt sie das, als Teil davon, wird aber von den meisten für was besseres gehalten, nicht nur von mir.
Im Tagesspiegel stand vor ein paar Tagen: »In der Grundschule haben ihr Mitschüler die Arme gebrochen. ›Einfach so‹, sagt sie, wohl aus purer Lust an der Gewalt.
Danach hatte sie oft Angst.« 
Weil sie Deutsch-Italienierin ist, keine Muslima, fragen Mitschüler nach der Vorführung: Warum machst du das mit dem Schleier?
Was geht dich das an?

»Ist ’ne Rolle«, hat sie geantwortet.
Muß man können als Star.
Mit 13. Manchmal ist sie schon 15, sagt sie, dann aber auch wieder zwölf.

Ihren geschliffenen Reim hat im übrigen schon Ayman abgefeiert, der Hits wie Nervengift in Hitparaden träufelt, »Du bist mein Stern« zum Beispiel.
In dessen Studio hat sie eine Platte aufgenommen, die im Handel ist.
Und sie kann mehr als HipHop.
Schmerzhaft schön singt sie das Liebeslied der zusammengetretenen Jüdin Rahel,
das mich auf dieser Hinterbühne in Berlin-Moabit – eine baufällige Ex-Schlachterei, versifft, dazu noch a capella – auf dem falschen Fuß erwischt hat.
Fünfmal im Jahr vielleicht schießen mir Tränen in die Augen.
Der blanke Text vermittelt nichts davon, warum gerade da.
Es war die Stimme: »Streichle meine Seele, / streichle sie sanft, / aber fest genug, / daß ich fühlen kann, / daß ich nicht alleine bin. / Streichle meine Seele.
// Fülle meine Leere, / ein kleines Loch, / aber groß genug, / daß es mir das Gefühl gibt, / daß etwas fehlt.
/ Fülle meine Leere. // Fang’ meine Tränen, / die wenigen, die fallen, / aber zahlreich genug …«


Dollars and Dimes

Zurück zum systemimmanenten Rassismus.
Die Verlierer vom Beussel-Kiez sind Felizetti kaum ähnlich.
Das gilt schon für Hossein Hamadani, der sich nach Leibeskräften – etwa mit der Aufführung einer »Detlef-Dee-Soost-Choreo« – um ähnlichen Glanz bemüht.
Zur Zeit wird ihm wie seinen Leuten penetrant unterstellt, sie hätten eine kulturelle Lücke zur Mitte der Gesellschaft aufreißen lassen,
wo wirklich alles – nämlich jeder – auf dem Markt zu haben ist.
Die Beussel-Kiez-Bewohner dagegen, heißt es, hätten in der »Vormoderne« überwintert.
Diese Familien-Vodoo-Schweinehasser-Priester hätten nicht kapiert, worum es geht.
Das haben sie nur zu gut.
It’s all about Dollars. Fast.

Gegen Ende des Stückes, dessen Titel »Intifada im Klassenzimmer« als Zugeständnis an die Förderer mit »?!?« 
versehen ist, ruft Hamadani, der die Befangenheit im Spiel nie richtig los wird: »Ja, ich solidarisiere mich mit dem irakischen Widerstand.
Ja, ich bin auf die Straße gegangen gegen die Tötung von Scheich Jassin.
Aber nein, ich sage es deutlich, ich bin verdammt noch mal kein Terrorist!« 
Für keinen Scheich der Welt würde ich meine Hand ins Feuer legen.
Aber es ist der irrationale Funke Hoffnung auf Respekt und Dimes, der dieses Theater trägt.
Sonst sucht man diesen Funken wie die Nadel im Heuhaufen.
Im Beussel-Kiez ist dieser Haufen Flamme.