Karlsruher Richter nennen ihre eigene Wahl verfassungskonform

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Bundesverfassungsgericht

2012

Süddeutsche Zeitung, Do 05.07.2012
Seite 1
Autor Wolfgang Janisch
Politik
Selbstjustiz
Karlsruher Richter nennen ihre eigene Wahl verfassungskonform

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Nächste Woche blickt mal wieder ganz Europa nach Karlsruhe,
es geht um den Rettungsschirm und den Fiskalpakt und irgendwie auch um das Schicksal der EU.
Gut, dass diese Woche eine Sache noch rasch geklärt wurde:
Das Bundesverfassungsgericht ist verfassungsgemäß zusammengesetzt.
Das ist nun höchstrichterlich festgestellt, und zwar durch, nun ja, das Bundesverfassungsgericht selbst.

Damit hat das Karlsruher Gericht eine der ältesten Fragen seiner Geschichte beantwortet.
Seit seiner Gründung im Jahr 1951 wird es vom Zweifel begleitet,
ob die Wahl der Richter überhaupt mit dem Grundgesetz im Einklang steht.
In Artikel 94 steht nämlich, dessen Mitglieder würden "je zur Hälfte vom Bundestage und vom Bundesrate gewählt".
Während im Bundesrat alle die Hand heben,
dürfen nur zwölf von 620 Bundestagsabgeordneten an der Wahl der hohen Richter mitwirken:
Das sind die Mitglieder des Wahlausschusses.
Der große Staatsrechtslehrer Richard Thoma hielt diese Praxis schon 1953 für verfassungswidrig.
Über die Jahrzehnte ist die Kritik mal lauter, mal leiser gewesen.
Heute mischt sich meist milde Resignation in die prinzipiellen Einwände:
ist zwar verfassungswidrig, führt aber zu respektablen Ergebnissen.

Der knappe Beschluss des Zweiten Senats könnte den Gegnern der diskreten Richterwahl freilich neuen Schwung verleihen.
Die Kandidatenfindung ist seit jeher wegen ihrer undemokratischen Intransparenz angegriffen worden.
Weil für die Wahl eine Zweidrittelmehrheit nötig ist, haben sich Union und SPD wechselseitig Vorschlagsrechte
für jeweils die Hälfte der 16 Stellen zugestanden, unter gelegentlicher Einbeziehung von FDP und Grünen.
In der Praxis heißt das: Die Obleute der Parteien einigen sich im Hinterzimmer auf die Kandidaten,
die dann im vertraulichen Zwölfergremium - dort herrscht Verschwiegenheitspflicht - abgenickt werden.

Der Zweite Senat hat nun das Hinterzimmer zum Verfassungsprinzip erhoben.
Die Übertragung der Wahl auf den Ausschuss "findet ihre Rechtfertigung in dem erkennbaren gesetzgeberischen Ziel,
das Ansehen des Gerichts und das Vertrauen in seine Unabhängigkeit zu festigen
und damit seine Funktionsfähigkeit zu sichern", heißt es in dem Beschluss.
Der Gesetzgeber sei zwar frei, "andere Modalitäten der Richterwahl zu bestimmen"
- einen Zwang zum Plenum enthalte das Grundgesetz aber nicht.

Übersetzt bedeutet dies ungefähr Folgendes:
Der Bürger vertraut seinen Richtern umso mehr, je weniger er weiß, wie sie an ihre Posten gekommen sind.
Das ist insofern bemerkenswert, als ebenjener Senat vor wenigen Monaten das hohe Lied auf die öffentliche Debatte im Parlament gesungen hatte:
Über milliardenteure Maßnahmen zur Euro-Rettung darf im Normalfall nur der gesamte Bundestag und nicht ein geheimes Neunergremium befinden.
"Entscheidungen von erheblicher Tragweite" müssten öffentlich diskutiert werden, dekretierte der Senat.

Was die Frage aufwirft, welche Tragweite eigentlich die Kür der Richter hat.
Deren Wahl müsse "dem Plenum der Abgeordneten" vorbehalten sein,
schrieb vor Jahren ein Freiburger Professor; ein Ausschuss verschaffe ihnen nicht genügend demokratische Legitimation.
Zwar weiß man nicht, ob der historische Karlsruher Beschluss einstimmig ergangen ist
- jedenfalls trägt er die Unterschrift jenes kritischen Professors:
Andreas Voßkuhle, inzwischen Präsident des Bundesverfassungsgerichts.