P-Abteilung der Berliner Staatsanwaltschaft
Aus InRuR
Initiative Recherche und Reflexion
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rechtskonservative Staatsanwälte
Bernhard Jahntz & Carlo Weber
1979
Berliner Prozessinfo April 1979 Rote Hilfe
1984
TAZ 4.9.1984
1990
Abgeordnetenhaus von Berlin 23. Sitzung Berlin, Donnerstag, 18. Januar 1990 =
2000
Denn er weiß, was er tut
von Uwe Rada
TAZ vom 9. 5. 2000
Berlin Aktuell S. 19
Steffen Telschow
Abgeordnetenhaus von Berlin 10.Sitzung Donnerstag 18. Mai 2000
tagesspiegel, 29.04.02
Der Aussteiger
In den Achtzigern bekämpfte Ulrich Möller Kreuzberger Krawallmacher – als Staatsanwalt.
Heute lässt ihn der 1.Mai kalt. Da geht er golfen
Von Thomas Loy
Wie wär’s mit Krawalltourismus? Ulrich Möller lacht zufrieden. Solche Fragen amüsieren ihn ungemein.
Was sie hintenherum bezwecken sollen, wittert er natürlich schon, bevor sie überhaupt gestellt sind. Einer wie er hat genug Menschen verhört, um zu wissen, wie man ihnen Sätze entlockt, die sie festnageln.
In den Law-and-Order-Strafraum soll er gedrängt werden, das ist offensichtlich, doch Möller weicht keinen Zentimeter von der Mittellinie.
Am 1. Mai wird er seinen Schlagstock einpacken – und auf den Golfplatz gehen. Ist doch alles Geschichte, die Randale, die Klopperei mit der Polizei, das Steinewerfen. Interessiert ihn nicht mehr.
Früher war das anders. Möller war mal Staatsanwalt, dienstverpflichtet zur juristischen Aufarbeitung der Spielpaarung Autonome gegen Polizei. Er gehörte zur berüchtigten „P-Abteilung“, der Politischen Abteilung. Dort, so raunte man sich zu, saßen die „scharfen Hunde“.
20 Jahre ist das jetzt her. Eigentlich hatte er mit diesem Teil seines Lebens längst abgeschlossen, lebt heute sozusagen als Aussteiger in einer völlig anderen Welt, genau wie viele Ex-Autonome. Öffentlich Position zu beziehen, ist ohnehin nicht seine Sache, aber „na ja, dann kommen Sie halt in mein Restaurant“.
Sein Restaurant ist das „Toto“ in der Bleibtreustraße. Möller übernahm es vor zehn Jahren von einem Geschäftspartner, der ihm Geld schuldete.
Im Toto trifft er seine Freunde: Juristen, Künstler, Filmleute.
Möller ist der Gastgeber mit listig umherschweifenden Augen, immer charmant, immer gutgelaunt und stets bedacht, nicht zu viel von sich preiszugeben.
Er spielt Golf, verreist viel, macht seine Geschäfte – Mode- und Immobilienbranche, „alles ganz seriös“ – liebt das Leben und die Frauen – ein Hans-Dampf-in-allen Gassen, sagt ein Bekannter. Undurchschaubar und für viele auch unnahbar.
Damals, vor 20 Jahren, hätte Möller jedem Journalisten die Tür gewiesen.
Die P-Abteilung blieb aus Prinzip und zur eigenen Sicherheit anonym. „Keine Namen, keine Bilder, keine Interviews.“
Erst als Ende der 80er Jahre gefordert wurde, die Abteilung aufzulösen, wagten sich einige Staatsanwälte aus der Deckung.
Zu der Zeit hatte sich Möller längst in die Geschäftswelt verabschiedet, weil er die Vorstellung nicht ertrug, bis zur Rente durch die dunklen Flure im Kriminalgericht Moabit zu laufen, weil mit der Legalisierung vieler Häuser die Arbeitsgrundlage abhanden kam, weil er eigentlich nie vorhatte, Staatsanwalt zu werden und vor allem deswegen: „Ich wollte Geld verdienen.“
Spannend waren sie dann doch, die Jahre zwischen 1982 und 1986, als Möller an der Kreuzberger Frontlinie stand. Da gab es die Maifeier-Randale noch gar nicht.
Da wurde an jedem beliebigen Tag des Jahres randaliert, wenn es die Besetzerräte für politisch geboten hielten – in der Regel nach dem Besuch einer Hundertschaft der Bereitschaftspolizei und eines Staatsanwaltes aus der P-Abteilung.
Aus Sicht der Autonomen befand sich Möller eindeutig auf der anderen Seite der Frontlinie.
Die P-Abteilung galt auch der gemäßigten Linken um die Alternative Liste als eine eingeschworene Gemeinschaft von Hardlinern mit ausgeprägter Wagenburg-Mentalität und überzogenem Korpsgeist.
Missliebigen Politikern wie dem Kreuzberger Baustadtrat Werner Orlowsky wurde schon mal ein Verfahren wegen „Veruntreuung öffentlicher Gelder“ angehängt.
Streitwert: 1,24 Mark. Möller dagegen sagt: „Die Staatsanwaltschaft ist die objektivste Behörde der Welt.
Es gab keine Verfolgungswut.“
Und: „Das ist hier immer noch ein Rechtsstaat.
Wer eine Straftat begeht, wird verfolgt.“ Er habe auch gegen prügelnde Polizisten wegen Körperverletzung ermittelt.
Wenn Geschäftsmann Möller heute durch das quirlige Kreuzberg schlendert, läuft sein Alter Ego, der Staatsanwalt, über den Friedhof der West-Berliner Hausbesetzerbewegung, vorbei an den Grabsteinen mit verwitterten Inschriften: Luckauer 3, Oranien 192, Fränkel 48 („die Fränkelburg“), Görlitzer 37, Manteuffel 43.
Nur noch wenige kennen diese Kürzel – Ulrich Möller hat sie sofort präsent. Sie haben sich in sein Gedächtnis gemeißelt wie Schauplätze von Kriegserinnerungen.
Er hat noch seine alte Feldherrnkarte mit den Grundrissen von SO 36 aufgehoben – eine Privatanfertigung.
Darin sind die Zentren des Widerstands dunkel umrandet. Pfeile weisen auf die möglichen Fluchtwege aus den Häuserblocks.
Erinnerungen aus belebter Zeit: „Unten waren die Häuser verbarrikadiert – so konnten Besetzer noch in Ruhe zuschauen, wie die Polizei anrückte, die Klamotten zusammenpacken und abhauen.
Die Häuser hatten teilweise ein sehr ausgeklügelten Fluchtsystem.
Entweder ging es übers Dach, oder die Brandwände in den Dachgeschossen waren durchgebrochen.
Manchmal gab es auch einen Tunnel im Keller. Zum Beispiel in der Oranien 198.
Als wir morgens um Sechs anrückten, war das Haus voller Besetzer.
Die begrüßten uns aus den offenen Fenstern.
Vom Dach wurden Gehwegplatten geworfen. Drinnen haben wir niemand angetroffen. In der Oranien 192 waren auf den Treppenabsätzen Bettgestelle montiert, die runtergelassen wurden, wenn die Polizei kam. Teilweise waren diese Gestelle unter Strom gesetzt.“
Verletzt wurde Möller nie. Mit der Zeit entwickelte er einen sechsten Sinn.
„In der Admiralstraße habe ich dem Bürgermeister von Kreuzberg, Wolfgang Krüger, mal das Leben gerettet.
Wir kommen in das Haus – war schon schwierig, die Treppen hochzukommen.
Die waren alle mit Armier-Eisen versperrt. Krüger tritt an ein Fenster heran.
Davor liegt ein Teppich. Krüger will gerade drauftreten, da reiß ich ihn zurück und zieh den Teppich weg – da konnten sie runtergucken bis in den Keller.“
Möller lässt die Story ein paar Sekunden nachhallen und sagt dann: „Das gehört zur Beurteilung von Hausbesetzern dazu.
Was wollen sie dann noch für Sympathien mit diesen Leuten haben?“
Ein zweites Mal lässt er sich nicht zu einer emotionalen Äußerung hinreißen.
Die Hausbesetzerszene müsse man stark differenzieren – zwischen den freundlichen „Müslis“, die ihre Häuser instand setzen wollten, und Unterstützergruppen von RAF und Revolutionären Zellen lägen Welten.
Der Großteil der 130 besetzen Häuser sei strafrechtlich nicht aufgefallen.
„Die wurden auch in Ruhe gelassen.“
Über den auffälligen Rest musste Möller dem Justizsenator regelmäßig Bericht erstatten.
Wenn die Beschwerden überhand nahmen, wurde eine Durchsuchung angeordnet. Vor Gericht seien die Autonomen dann immer stumm geblieben.
Das nimmt Möller den radikalen Besetzern fast am meisten übel.
Sie hätten keine Botschaft gehabt, kein Konzept von einer anderen Welt.
Sie haben ihn, Möller, in den zähen Gerichtsverfahren, oft tödlich gelangweilt.
Auch deshalb ist er aus dem Katz-und-Maus-Spiel ausgestiegen. Möller hasst langweilige Sitzungen.
Seine Freunde vom Fernsehen hätten ihm abgeraten, jetzt, mit 53 Jahren, noch anzufangen.
Damit es trotzdem nicht langweilig wird, hat er seine Zulassung als Rechtsanwalt beantragt. Arbeitsgebiet: Strafrecht.
Dokumentation:
Simon, 61, gelernter beruf:lehrer
ausgeübter beruf:anarchist, berlin Nickname: knastblattaxel,
Country: Germany, Language: German
I offer:
presse über mich: "Michael Kohlhaas" Was ist gerecht? Er engagierte sich für Gefangene und kam selber ins Gefängnis von Michael Sontheimer aus:DIE ZEIT - Nr. 43-19 Oktober 1984 Die Sicherheit, die man Ralf-Axel Simon seit knapp einem Jahr angedeihen läßt, kann sich wirklich sehen lassen:Fünf Panzerglastüren, die sich automatisch öffnen und schließen, zwei Drehkreuze, penibles Abtasten und noch mal drei Stahltüren, dann muß ich vor einer imposanten Gittertür warten, einer mit dicken Eisenstäben wie die eines Raubtierkäfigs.
Hinter ihr sind allerdings keine Löwen und Tiger untergebracht, sondern Männer, die unter dem Verdacht stehen, Strattaten begangen zu haben, Untersuchungshäftlinge der Untersuchungs-Haftanstalt Berlin-Moabit.
Ungefähr 140 Männer sind in diesem Flügel des über hundert Jahre alten Gemäuers in vier Stockwerken übereinandergeschachtelt.
Ihre Zellen gehen von Eisengalerien ab, zischen denen in jedem Stockwerk stabile Maschendrahtgitter gespannt sind.
So einfach soll sich hier keiner aus der Verantwortung stehlen.
Am anderen Ende der langegezogenen Halle wird Ralf-Axel Simon hereingeführt.
Mit einem wippenden, geradezu fröhlichen Gang kommt er neben einem Schließer herübergeschlendert.
Er trägt blaue Arbeitskleidung, lange lockige Haare rahmen ein zartes Gesicht ein.
Daß er ein gefährlicher, notorischer Straftäter sein soll, kommt mir völlig absurd vor, er sieht aus wie ein friedfertiger Landkommunarde.
Der Schließer führt uns in einen kleinen Raum, dessen Einrichtung aus einem Waschbecken, einem Stück Seife, vier Stühlen, einem Tisch und einer Fischdose als Aschenbecher besteht.
Nachdem Ralf-Axel mir bedeutet hat, daß die Gespräche im Raum abgehört werden, beginnt er seine Geschichte zu erzählen:
"Am 16. August.letzten Jahres bin ich zu 16 Monaten verurteilt worden, wegen achtfacher Beleidigung übler Nachrede und Auffoderung zu Straftaten.
Obwohl ich nicht vorbestraft war, habe ich keine Bewährung bekommen, weil ich nach der Meinung des Gerichts ein Überzeugungstäter bin.
Seit dem 16. September bin ich hier, immer in Haus 1, und das heißt jeden Tag 23 Stunden alleine auf der Zelle, 23 Stunden auf acht Quadratmetern.
Die ersten drei Monate war ich in Totalisolation, hatte auch Einzelfreistunde.
Seit ungefähr einem halben Jahr habe ich Kopfschmerzen und kann deshalb nicht mehr richtig lesen.
Schreiben geht gerade noch, aber ich muß mich immer hinlegen.
Die Kopfschmerzen, das sagen sie dir hier, die wären normal, das käme eben von den 23 Stunden Einschluß."
Die Worte sprudeln regelrecht aus ihm heraus, er spricht mit einer Präsens und Intensitität eines nach Kontakt mit Menschen Hungernden.
Von seinen Eltern erzählt er, die regelmäßig aus Osnabrück anreisen,
um ihn zu besuchen und ihn rückhaltlos unterstützen, und davon, wie er 1972 nach Berlin kam und sich vorgenommen hatte, nicht so einer zu werden wie sein Großvater, der sein ganzes Leben lang als kleiner Beamter gebuckelt hatte.
Der Wille zum aufrechten Gang kann teuer zu stehen kommen, und daß das Gericht den 31 jährigen als Überzeugungstäter eisstufte, ist so falsch nicht.
In das Gefängsnis hat ihn seine Überzeugung gebracht, die Verhältnisse in Gefängsnissen seien so unmenschlich, daß es seine Aufgabe, ja seine Pflicht sei, diese Verhältnisse zu bekämpfen.
"Ich habe schon viele Leute erlebt, die sich für Gefangene engagiert haben", sagt sein Anwalt Christian Ströbele, "aber in einem solchen Maße, das habe ich noch nicht erlebt."
Jahrelang ist Ralf-Axel Simon in dieser Mission restlos aufgegangen, unterstützte er Gefangene und prangerte das System des Strafvollzugs an.
Alle vierzehn Tage produzierte er mit sporadischer Unterstützung von Gesinnungsgenossen ein beidseitig bedrucktes DIN-A4-Papier mit dem Titel Knastblatt.
Dieser mit eigenen Informationen angereicherte Pressespiegel zum Thema Justiz und Strafvollzug, der in verschiedene Alternativzeitungen eingelegt wurde und den er selbst verteilte, brachte ihm in der Kreuzberger Szene den Spitznamen "Knastblattaxel" und im Kriminalgericht Moabit bislang 32 Monate ein.
Mehrere Anklagen stehen noch aus.
Darüber hinaus wurde es ihm in seinem ersten Prozeß für zwei Jahre untersagt, den Beruf eines Verlegers, Redakteurs und Journalisten auszuüben.
Aber da er weiterhin sein Knastblatt produzierte, wurde er bei den folgenden zwei Verhandlungen auch noch wegen des Verstoßes gegen das Berufsverbot verurteilt.
"Dabei habe ich mich nie als Journalisten verstanden", sagt er, "sondern als jemand, der politische Arbeit macht.
Das Knastblatt war eher ein Abfallprodukt dieser Arbeit.
Ich habe in den letzten sieben Jahren, bevor ich in den Knast kam, immer nur vier Stunden geschlafen und das auch noch in Schichten.
Den Rest der Zeit habe ich Zeitungen verkauft und fast alles Geld, das ich dabei verdient habe, für Gefangene ausgegeben.
Eine Freundin von mir hatte öfters den P.P.Zahl besucht, und darüber bin ich zur Roten Hilfe gekommen, so fing das eigentlich an.
Irgendwann bin ich dann observiert worden, der Staatsschutz dachte nämlich, da müssen noch mehr Leute dahinterstecken, so viel kann ein einzelner gar nicht machen."
Sein Engagement für Gefangene war in einem maße selbstlos, daß es ihm auch bei Freunden und Gesinnungsgenossen nicht nur Anerkennung und den Ruf eines "Engels der Gefangenen" einbrachte, sondern auch verständnisloses Kopfschütteln provozierte.
Ein Mensch, der sein ganzes Leben der Politik und der Solidarität unterordnet, hat etwas ebenso Bedrohliches wie Mitleiderweckendes.
Doch so schlüssig ist dasBild des Märtyrer auch nicht.
Bis Ralf-Axel ins Gefängnis kam, spielte er in der Schach-Bundesliga, und zur Zeit arbeitet er die aktuelle Fachliteratur auf, um, wenn er irgendwann entlassen werden sollte, sein Geld als Schach-Profi zu verdienen.
Ein sensibler Mensch mit einem ungeheuren Gerechtigkeitsempfinden sitzt mir da gegenüber, doch seine behutsame Art steht in einem krassen Gegensatz zu dem rüden Ton, den er im Knastblatt angeschlagen hat.
Darin hat er eine Sprache gepflegt, die zwar in der Kreuzberger Szene und unter den meisten Gefangenen geläufig, doch in den Augen jedes Richters strafwürdig ist.
Von "greuen Ratten mit Schließermacht", "Justizschweinen", "Bullen" oder "Schließerschweinen" war da zu lesen.
"Ich habe Partei ergriffen", sagt er dazu, "aber ich habe es nie idealisiert, daß die Schließer die Bösen und die Gefangenen die Guten seien."
Abgesehen davon, daß seine Post vom Sicherheitsbüro kontrolliert wird, kann er sich auch nicht über Schikanen beklagen, sicher gäbe es üble Schließer, aber auch einige, mit denen er sehr gut auskäme.
Die harten Worte in seinem Knastblatt erklärt er nicht nur damit, daß er Wut gehabt hätte, sondern auch damit, daß, da er nur Kurzmeldungen zusammengetragen habe, er eben solche Worte benutzen mußte, um eine Tendenz reinzubringen.
Daß Ralf-Axel Simons Motive moralischer Natur sind, darauf deutet auch etwas hin, worüber er heute nicht mehr so gerne spricht:Bis Mitte der 70er Jahre hat er als evangelischer Religionslehrer an einer Grundschule unterrichtet.
Zwar sagt er:"Ich habe nie besonders viel von Theologie gehalten, denn selbst wenn es einen Gott geben sollte, müssen wir uns helfen", doch vor Gericht praktizierte er ein rigoroses Bekennertum.
"Ich will nicht taktieren" , sagt er immer wieder und erzählt davon, wie er, nachdem man ihm das Lehren untersagt hatte - er hatte mit seinen Schülern das italienische Arbeiterlied "Avanti Popolo" gesungen und war bei einer Diskussion über die Entführung von Peter Lorenz zu dem Schluß gekommen, die Bewegung 2.Juni hätte aus selbstlosen Motiven gehandelt - , zum letzten Mal in das Lehrerzimmer gekommen sei:"Da haben mich die Kollegen, auch die, die mich vorher unterstützt und geduzt hatten, nicht einmal mehr gegrüßt, weil sie Angst hatten. Soweit soll es mit mir nicht kommen."
Seine tiefe Angst davor, seine Überzeugung zu verleugnen und der Glaube, er würde ohnehin hart verurteilt werden, hätten es wohl auch unmöglich gemacht, daß einer seiner Richter ihm aus der Souveränität seiner Macht heraus eine Brücke hätte schlagen können.
Dies ist freilich eine unnütze Spekulation, denn seine Richter verurteilten ihn gerade deshalb so gnadenlos, weil er es gewagt hatte, ihren eigenen Berufsstand zu beleidigen.
Der Prozeß, in dem Ralf-Axel Simon von einem unerbitterlichen Kritiker der Justiz zu einem Opfer unerbitterlicher Justiz wurde, hat deshalb etwas Zwansläufiges, er funktionierte wie eine self-full-filling prophecy.
"Nutte im übertragenden Sinne", hatte er eine Richterin tituliert, weil sie sich an Justiz verkaufe, die nicht Gerechtigkeit und Menschlichkeit schaffe, sondern dafür sorge, daß die Reichen reicher und die Armen ärmer würden.
"Hier sitzt einer, der bei Aldi für 10 Mark 75 geklaut hat, zehn Monate und Garski, der Millionen veruntreut hat, wird nach zwei Monaten freigelassen."
"Ist das gerecht?" fragt er mich.
"Such is life", antworte ich.
Er ist ein Michael Kohlhaas, einer, der den Schmerz nicht erträgt, "die Welt in einer so ungeheuren Unordnung zu erblicken".
Mich schmerzt es erst, als ich wieder auf der Straße in der Sonne stehe und weiß, daß er jetzt wieder in seiner Zelle hockt.
Noch ein, zwei oder sogar drei Jahre - und das für gedruckte Worte.
Michael Sontheimer Diese Wörter von Benny Härlin (aus:Die Tageszeitung vom 4.9.84) "Es geht nicht darum, gefangen zu sein, sondern darum, sich nicht zu ergeben."
Ralf-Axel Simon nach Nazim Hikmet in "Knastblatt 72" Zusammen zwei Jahre und acht Monate soll Ralf-Axel Simon, in der Berliner Szene besser bekannt als "Knastblatt-Axel", hinter den Mauern verbringen, gegen die er seit Jahren anrennt.
Das Verbrechen? Fortgesetzte Beleidigung der Berliner Justiz und Polizei.
Zudem verhängte ein Schöffengericht wegen seiner "staatsverachtenden" Gesinnung ein zweijähriges Berufsverbot als Verleger und Journalist gegen diesen "Überzeugungstäter", de facto ein Verbot, überhaupt noch öffentlich seine Meinung kundzutun.
Dieses bisher einzigartige Berufsverbot wäre, wenn es von der Berufungsinstanz bestätigt wird, ein neues Glanzstück in dem ohnehin schon gut bestückten Kabinett politischer Anmaßungen der Berliner Strafjustiz: die Verwirkung von Grundrechten zur Disposition Moabiter Amtsrichter!
"Von solch einem Staat mit einem Berufsverbot als Journalist bedacht zu werden und sich wegen Beleidigung der Leute, die die Macht der Herrschenden durchsetzen, Knaststrafen einzufangen, kann ich nur als eine menschliche Auszeichnung begreifen", schrieb Axel einmal in seinem Knastblatt - wqs prompt zu seiner nächsten Verurteilung beitrug.
Dieser von beiden Seiten mit erbarmungsloser Sturheit ausgetragene Kampf um Worte und Werte ist Posse und Tragödie, Staatszirkus und Märtyrerlegende zugleich, ein unverträglich deutsches Stück Kultur-, Justiz und linker Geschichte.
Während ich die Alu- und Panzerglasschleusen der Moabiter U-Haft passiere, muß ich an die kleine muffige Zelle denken, in der die Gefangenen vor und nach ihrer Besuchszeit zwischengelagert werden.
Der Boden ist von Kippen übersät, an den pißgelben Wänden findet man kaum noch Platz für seinen Spruch.
Hier kommt jeder vorbei.
Der richtige Platz also, um Grüße an Kumpels zu hinterlassen oder ihnen ewige Rache anzukündigen, wenn sie gesungen haben.
Dem unvermeidlichen Innensenator Lummer wird dort von Besetzers die Schlachtung angedroht und zwischen arabischen Hieroglyphen steht:"Einen Finger kann man brechen - fünf Finger sind eine Faust!" und darunter:"Dann schlag`damit doch mal gegen diese Wand, du Idiot!" In diesem Kabuff sitzt er jetzt und wartet, starrt vielleicht durch Gitter und Stacheldraht des Oberlichts in den Himmel oder auf den festgetrockneten Rotz an der Wand.
Ein mieser Ort für Sehnsucht.
Hier bricht sich der Knastalltag am Gefühl. Gleich wirst Du sie sehen, für eine ksotbare, schmerzhafte halbe Stunde, die Liebe, wie einen Kloß im Hals.
Und danach sitzen traurige Familienväter, todunglückliche Geliebte und verlorene Söhne da mit ihrem Tabak und der Schokolade aus dem Automaten, in Gedanken noch mit ihnen auf dem Weg nach Hause, bis der Schließer sie zurück in ihre Zelle führt.
Man könnte heulen, aber doch nicht hier.
Axel sieht blaß und ungesund aus in seinem Anstaltsdrillich. Nur seine Augen strahlen wie immer. Draußen hätten wir uns nicht umarmt.
Hier könnte ich ihn einfach im Arm behalten und am liebsten gar nix reden statt die knappe Zeit mit Worten zu verschwenden.
Draußen hat er manchmal darüber geredet, wie es im Knast wohl sein iwrd.
"Du willst ja auch regelrecht einfahren!" habe ich ihm vorgeworfen und er hat gelacht.
Jetzt hat er Kopfweh, seit einem halben Jahr, fast ununterbroche.
Lesen, Schreiben, alles tut weh.
Sie haben ihm zwei Tabletten gebracht am Tag, die soll er sich einteilen. Aber mit sowas fängt er erst gar nicht an.
23 Stunden am Tag allein, mit pochendem Kopf, das ist Folter, Wahnsinn! "Ich habe glernt, damit umzugehen", sagt Axel und lächelt.
Dieser liebe, etwas schmächtige Mensch mit seinen braunen Jesus-Locken un dem Vollbart, der mir da gegenübersitzt, verfügt über eine Leidensfähigkeit, die mir einfach unfaßlich ist. "Leiden gibt Kraft, weil du merkst, daß sie dich damit nicht brechen können", hat er mir geschrieben. Ich fürchte, daß er Leiden braucht um zu wissen, daß er kämpft.
Aber das hält er für ein Klischee.
Ralf-Axel Simon, soviel steht fest, ist ein extremer Typ.
Sein erstes Berufsverbot bekam er vor fast zehn Jahren als Religionslehrer.
"Avanti Populo" und der "Baggerführer Willibald" erregten schon Aufsehen.
Als er mit den Kindern in der Religionsstunde über die Motive der Entführer von Peter Lorenz diskutierte, flog er raus.
"Als ich entlassen wurde, das werde ich nie vergessen, und das letzte Mal im Lehrerzimmer saß, haben mich meine Kollegen, auch die, die mich zuvor unterstützt und geduzt hatten, nicht einmal mehr gegrüßt, weil sie Angst hatten.
So weit soll es mit mir nie kommen!" meint er.
Er spielte Schach in der Deutschen Schach-Bundesliga und arbeitete in einer Dritte-Welt-Initiative als wir uns kennenlernten.
Mit dem alternativen Lebensstil der Zeitungsredaktion, in der wir uns begegneten, hatte er große Schwierigkeiten.
Er konnte einfach nicht verstehen, daß wir so wenig Konsequenz und Verbindlichkeit aufbrachten, soviel redeten und so wenig taten.
Axel war für mich der vollkommene Vertreter des kategorischen "DA-muß-man-doch-was-tun!" und gerade dieser gewisse offene Blick, seine unbeirrbare Freundlichkeit mobilisierten in mir sofort sämtliche Abwehrsysteme gegen dieses ewige schlechte Gewissen, das besonders gute Menschen bei einem durchschnittlichen Sünder unweigerlich auslösen.
Da es der Sünder allzuviele gibt und der Starke bekanntlich allein am stärksten ist, stieg er bald aus und machte als Einzelkämpfer Knastarbeit.
Fast täglich besuchte er Gefangene in Tegel und Moabit, bis er dort Hausverbot bekam, vermittelte Briefkontakte, und seine Paketaktionen zu Weihnachten und Ostern machten ihn in allen Berliner Knästen berühmt.
Im grünene Parka mit seinem Moped nachts von einer Kneipe zur nächsten unterwegs, um -zur Finanzierung seines Ein-Mann-Komitees- die Stadtillustrierte `Zitty`zu verkaufen und sein `Knastblatt`zu verteilen, so war er der Berliner Scene als eines ihrer Orginale bekannt.
Beim `Tagesspielgel`kannte man ihn als zuverlässigen Zeitungsausträger im Morgengrauen.
Dem Staatsschutz, der sich bald für seine Arbeit, v.v. das `Knastblatt`zu interessieren begann, war nur er allein als Betreiber, Finanzier und Akteur bekannt, obwohl man in wochenlangen Observationen nach Hintermännern und Hilfstruppen gesucht hatte.
"Soviel kann einer allein gar nicht schaffen - dachten die", erzählt er stolz.
Den Trick verriet er mir schon vor Jahren mit dem Gestus einer naturwissenschaftlichen Entdeckung:
"Der Mensch braucht eigentlich nur vier Stunden Schlaf am Tag", er hat es jahrelang bewiesen.
Über seine Arbeit schrieb Axel nach seiner Inhaftierung fogendes: Gerichtsurteil Name:Ralf-Axel Simon Geboren: im heißen Herbst 1977 von da an begann ich politisch zu denken!/doch lebe ich schon viel länger/seitdem es Widerstand, seitdem es Befreiungskämpfe gibt!/Beruf:Aufständischer, Sandkorn im Getriebe der Macht/ich bekenne mich schuldig: sechs Jahre gegen die Einknastung von Menschen gearbeitet zu haben/ich bekenne mich schuldig/in dieser Zeit mehr als 100 000- DM durch nächtliches Zeitungsaustragen und verkaufen/für die Knastarbeit erarbeitet zu haben ich bekenne mich schuldig/ein Knastblatt herausgegeben zu haben/alle 14 Tage in einer Gesamtauflage von 15-20000 Exemplaren/mit einer Gesamtauflage von einer Million/ich bekenne mich schuldig/dieses Knastblatt aus der inhaltlichen und sprachlichen Sicht der Betroffenen geschrieben zu haben/ich bekenne mich schuldig/Weihnachten 1982 und Ostern 1983/für die Gefangenen eine Paketaktion organisiert zu haben, d.h. es wurden insgesamt 1000 Pakete an Gefangene geschickt, die sonst kein Paket bekommen hätten/ich bekenne mich schuldig/einen Schließer daran gehindert zu haben/ wehrlose Gefangene ztu quälen/indem ich in der Wohngegend dieses Schließers/ein Flugblatt mit der Vorfallsschilderung verteilt habe/der Schließer ist dann den peinlichen Fragen seiner Nachbarn ausgewichen/indem er umzog und seitdem keinen Gefangnenen angefaßt hat ich versichere eidesstattlich, diese meine Arbeit weiterzumachen und zu vollenden, sobald ich meine Strafe dafür, die zwei Jahre Knast, abgesessen habe!
Das `Knastblatt`, als dessen alleinverantwortlicher Redakteur, Herausgeber, Finanzier, Hersteller und Vertreiber Ralf-Axel Simon verantwortlich zeichnete, ist zunächst einmal ein überwältigendes Beispiel dafür, wieviel Text man auf der Vorder- und Rückseite eines einzigen DIN-A Blattes zusammenquetschen kann.
Duch konsequente Kleinschreibung spart er beim Zeilenabstand, kam er mit dem Platz dennoch nicht hin, reduzierte er kurzerhand die Schriftgröße.
Inhaltlich sollte es "einen Überblick geben über das, was in den Bereichen Knast, politische Prozesse und Bullenterror in den letzten zwei Wochen öffentlich gemacht wurde".
Es handelte sich also genaugenommen um eine Art Pressespiegel.
In Drei-bis Zehnzeilern refereierte er auf seine ganz spezielle Art Artikel aller Berliner und überregionalen Tageszeitungen: "terrorurteil des bundes`sozial`gerichtes"..."terrorurteil in coburg"...terrorurteil in frankfurt"..."terrorurteil in itzehoe" ... "die unglaubliche terrorbilanz der bärliner bullen-justiz-mafia"...so beginnen die zu vermeldenden politischen Verurteilungen:"jubel in..." siganlisiert einen Freispruch für Freunde, "eine krähe hackt der anderen kein auge aus" dagegen einen Freispruch für "bullen" oder andere staatsdiener.
Zwischen den Nachrichten lockern fettgedruckte Sinnsprüche und Parolen das Bild auf.
Zitate von Brecht, Borchert, Ulrike Meinhof oder Ingeborg Drewitz, Hauptsache knapp und stark tönend, kämpferisch oder anklagend, dazwischen "Reim-dich-oder-ich-freß-dich" wie "sabotage ist unsere list gegen dieses system, was uns zerfrißt!!!" Kaum ein Satz, an dessen Ende nicht mindestens ein, meistens drei Ausrufungszeichen stehen.
Vom Kampf ist viel die Rede und auch vom "Siegen oder Sterben".
Neben so originellen Weisheiten wie "es gibt idioten, noch größere idioten und richter!!!" transportieren diese kurzen Aufschreie zwischen den vermeldeten "riesensauereien" eine beängstigende Ideologie:"wozu gibt es eigentlich gesetze, wenn die repräsentanten dieser gesetze diese mißachten?" - "wir haben keine angst, weil wir im recht sind" - "es gibt kein größeres verbrechen, als diesem staat zu dienen" - "steckt lummer und sein mörderpack in den knast!" -"unsere rache kommt bestimmt und wird furchtbar sein" -"niemand der gefangene unterdrückt bleibt unbestraft!!!" Doch die vernichtende oder befreiende Kraft der Worte hängt davon ab, was sie an Bewußtsein über die Realität transportieren.
Die Macht, auch begrifflich Fakten zu schaffen und die Furcht vor der Wahrheit bestimmen den Herrschaftscharakter der Sprache.
Daß die Sprache, die Axel der herrschenden entgegensetzte, auf diese fixiert blieb, ist ein besonders hinterhältiger Beleg seiner These.
Denn der Ohnmächtige verändert nicht die Begriffe, sondern wirft mit Wörtern, die doch nur die Macht widerspiegeln.
Und doch erscheint die sprichwörtliche ohnmächtige Wut, die seine Wortwahl ausdrückt, die Bekennerpose, die die Lächerlichkeit nicht scheut und die ihr Ziel schon dadurch erreicht, daß sie verfolgt wird, ist Ralf-Axel Simons Kampf der Berliner Justiz so gefährlich, daß sie ihrerseits weder Lächerlichkeit noch Kosten und Mühe, nicht einmal die Überschreitung selbst gesetzter Grenzen scheut, um diesen modernen Kohlhaas unschädlich zu machen.
Bekenntnis springt den Leser aus jedem Satz an.
Die gewollte Übertreibung, die schon sprachlich unzweideutige, platte Diskriminierung von Freund und Feind, der ungeschminkte Appell an Vorurteilsbereitschaft wirkt so unglaubwürdig, künstlich und monoton wie jede Propagandasprache Recht und Gegenrecht, Terror undGegenterror, Verachtung und Gegenverachtung, , Lüge und Gegenlüge, Aug' um Aug', Zahn im Zahn? Worte sind Waffen Er habe eben wenig Platz gehabt, sagt Axel, das zwinge zu Vereinfachung.
Er halte keineswegs jeden Schließer für ein Schwein, und auch nicht jeden Gefangenen für einenEngel.
Schon gar nicht, seit er den Knast aus der Perspektive des Betroffenen mitbekommt.
"Ich wollte eben eine andere Sprache sprechen, die der Betroffenen, eine, die unsere Wut und unsere Inhalte rüberbringt."
Er wollte der Sprache der Herrschenden etwas entgegensetzen.
"Es gibt keine neutrale Sprache", sagt er, Begriffe drücken nicht nur Machtverhältnisse aus, sie sind selbst Unterdrückungsinstrumente.
Zum Beispiel der Begriff "Terrorismus", der ursprünglich eine bestimmte Form staatlicher Herrschaft bezeichnet, hierzulande aber verdreht wurde, um Gegner dieses Staates zu denunzieren.
Jedes"terrorurteil", jede "ratte in grau", jeder' "staatsverbrecher" also ein Schlag ins Gesicht der Herrschenden? "als wolle man 'nem partisanen verbieten, eine waffe zu tragen", kommentierte Axel mal im 'Knastblatt' das gegen ihn beantragte Berufsverbot.
Gewiß, Worte sind Waffen.
Deshalb gibt es Zensur, gibt es Sprachregelungen, gibt es ein "Wörterbuch des Unmenschen", fühlen Politiker sich von "Ratten und Schmeißfliegen" zurecht bedroht.
Deshalb hat der Mann, der es fertigbrachte, den Pazifismus für Auschwitz verantwortlich zu machen, die Parole der "Begriffsbesetzung' ausgegeben, deshalb waren die Erfinder von Auschwitz auch die Erfinder eines Propagandaministeriums und deshalb ist es schließlich so entsetzlich, daß es keine Worte gibt, um das zu erfassen, was dort geschah.
Staatssch (m) utz Die politische Polizei und Staatsanwaltschaft gehörten jedenfalls zu Axels treuesten Lesern.
Wie Sommerschlußverkauf mußte ihnen wohl vorkommen, was sie sich alle 14 Tage über Mittelsmänner beschaffen ließen, eine Fundgrube, ein wahrer Wühltisch strafbarer Inhalte bot sich dem geschulten Auge dar: Beleidigungen im Dutzend, Verungfimpfungen des Staates und seiner Organe - alles voran des "staatsschmutz" selbst, wie Axel sie nannte - auch als Bedrohung, gar Aufruf zu strafbaren Handlungen, konnte man mit nur durchschnittlich schutziger Phantasie manches interpretieren.
Und dann natürlich noch der unvermeidliche Verstoß gegen das Berliner Pressegesetz, den herauszufinden den Beamten der P-Abteilung wohl ein ähnlich sportliches Vergnügen sein mußte - wie ihren Verkehrskollegen der Freak, der eine halbe Minute zu lange im Parkverbot stand.
Dabei bekannte sich Axel in jeder Ausgabe in der ihm eigenen Art mit Namen, Adresse und sogar Telefonnummer zu seinen Taten, ein angenehmer Kunde.
Dies half weitgehend jene Peinlichkeit vermeiden, zu der der Berliner Staatsschutz sonst oft neigt: Vor lauter Empörung über die Tat und den Angeklagten scheint man es dort zuweilen für überflüssig zu halten, letzterem erste überhaupt nachzuweisen und verlegt sich dann hilfsweise aufs Zutrauen: dem Opfer die Tat und dem Gericht die gerechte Gesinnung.
Meistens klappt es ja auch so.
Auch eine zweite Peinlichkeit blieb diesmal ausgeschlossen, mit der die Herren Staatsschützer schon öfter zu kämpfen hatten.
So bleiben beispielsweise die von ihnen über mehr als vier Wochen gesammelten, als Transparente oft unter Gefahr für Leib und Leben sichergestellten tatsächlichen oder vermeintlichen Beleidigungen, die die Berliner Szene sich für Herrn Reagan ausgedacht hatten, sämtlich ungesühnt, da der Präsident und seine Adniinistration sich nicht bereitfanden, einen Strafantrag zu stellen.
Bei "django-hübner und sein bullenpack' konnte solch eine Panne nicht passieren. es gibt eben so'ne und solche Präsidenten.
Überhaupt kann, wer beleidigen und den Staat verunglimpfen will, sich kaum ein dankbareres Objekt als Justiz- und Polizeibehörden vornehmen:"L`ètat c`est moi"- je subalterner der Beamte, desto mehr.
Und nirgends reagiert man auf das für , Kenner" von Jugend und Szene längst zur Umgangssprache gehörende Vokabular vom "Schweinesystem" und seinem "Scheiß-Staat" noch mit solch selbstverständlicher Humorlosigkeit und dem ganzen Muff einer seit Kaisers, ja Königs Zeiten ungebrochenen Tradition: beleidigt bis auf die Knochen.
Axel ist einer der letzten Majestätsbeleidiger der alten Schule.
Und die beleidigten Majestäten, amtsdeutsch als "beleidigungsfähiges Köllektiv" bezeichnet, ließen als Ermittler, Verfolger, Ankläger, Richter und Vollstrecker, die sie ja ebenfalls waren (das macht unsere Demokratie ... ), ihrer Wertschätzung für die eigene Würde und Bedeutung freien Lauf.
Unverstanden konnte er sich von ihnen wenigstens nicht fühlen.
Beleidigung ist ein Delikt, das gemeinhin mit Geldbußen bestraft wird.
210 Tagessätze a´ 60 Mark waren den Gerichten die ersten vier 'Knastblätter`, die sie zu begutachten hatten, wert. Das war 1980.
Dann war nach Auffassung des Landgerichts "die Verhängung von Freiheitsstrafen zur Einwirkung auf den Angeklagten unerläßlich, um ihm zu zeigen, daß sich der Rechtsstaat Verunglimpfungen seiner Beamten auf Dauer nicht gefallen und sühnelos geschehen läßt".
Was ihm für die folgenden Ausgaben an "Sühne" zugedacht wurde, ist in der Justizgeschichte auf dem Gebiet der Beleidigung wohl Rekord: 16 Monate ohne Bewährung für acht Knastblätter und seine Bitte während des Prozesses, den Gerichtssaal verlassen zu dürfen, da ihm "kotzübel" werde.
Letzteres sei eine grobe Beleidigung des Polizeizeugen Schott, auch wenn dieser tatsächlich dem Angeklagten kurze Zeit vorher mit gezogener Waffe bei einer Hausdurchsuchung gegenübergetreten sei.
Dieses Urteil ist mittlerweile rechtskräftig.
Zwei Drittel der Strafe hat Axel bereits abgesessen.
Doch die übliche Aussetzung der Reststrafe lehnte das Gericht mit der überwältigenden Begründung ab, der Angeklagte habe bekundet, er wolle sich auch weiterhin um Gefangene kümmern." Noch nicht rechtskräftig ist das zweite Urteil, das weitere sieben Ausgaben des 'Knastblatts' mit neuen Monaten Haft veranschlagte und gleichzeitig ein zweijähriges Berufsverbot als Verleger, Redakteur und Journalist verhängt.
Einen der neun Monate bekam er dafür, daß er gegen ein schon während des Prozesses ausgesprochenes, kurz darauf von der nächsthöheren Instanz freilich wieder aufgehobenes "vorläufiges Berufsverbot" verstoßen habe.
Das strafrechtliche Berufsverbot (§70 StGB), das im Gegensatz zum Radikalenerlaß auch offiziell so heißt, wird gegen Straftäter verhängt , bei denen das Gericht davon ausgehen muß, daß sie auch in Zukunft die Ausübung ihres Berufs zur Begehung erheblicher rechtswidriger Taten mißbrauchen werden.
Klassische Fälle sind die morphiumsüchtige Krankenschwester oder der zur "Unzucht mit Abhängigen" und Minderjährigen neigende Lehrer.
Journalisten, wenigstens soweit es sogenannte "Meinungsäußerungstaten" betrifft, auf diese Weise das Handwerk zu legen, erschien Richtern und Rechtskommentatoren bisher deshalb nicht möglich, weil es sich bei ihrem Gewerbe um ein vom Grundgesetz ausdrücklich geschütztes Grundrecht handelt. (Art.5).
Die Hure der Macht Zwar sieht das Grundgesetz auch vor, daß Feinde der Verfassung dieses Grundrecht verwirken können, wenn sie es zu deren Bekämpfung mißbrauchen (Art. 18).
Doch die übrigens in keinem anderen dernokratischen Land mögliche Feststellung der Verwirkung eines Grundrechts ist ausschließlich dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten.
Eine solche Verwirkung des Rechts auf freie Meinungsäußerung stand dort bisher zweimal zur Debatte.
Gegenüber Verlegern der von ihm verbotenen KPD sprach das Verfassungsgericht ein solches Berufsverbot aus, gegenüber dem Neofaschisten und Herausgeber der 'Nationalzeitung`, Dr. Frey, lehnte es eine derart tief in die Freiheitsrechte unserer Demokratie einschneidende Maßnahme dagegen ab.
Im Falle von Ralf-Axel Simon geht es nun allerdings nicht um die staatsrechtlich tiefschürfende Frage, wann unter dem Motto "Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit-"jener eiserne Vorhang fällt, jenseits dessen sich sich unsere "wehrhafte Demokratie" selbst totalitäre Methoden zugesteht.
Es geht - im günstigsten Falle - um einen Amtsrichter, der offensichtlich zu der Gruppe von Staatsdienern gehört, die es ablehnen, "den ganzen Tag mit dem Grundgesetz unter dem Arm" herumzulaufen.
Im ungünstigeren Falle, und man unterschätze weder Kreativität noch Tradition der Moabiter Landrichter, geht es darum, dort anzuknüpfen, wo die Nazis aufgehört haben: die benutzten Berufsverbote als eines der Hauptinstrumente der Reichsschrifttumskammer zur Gleichschaltung der Presselandschaft.
Nicht, daß man die FDGO verlassen wolle, aber es geht hier doch um einen Extremfall.
Was soll man denn tun bei solch einem notorischen Überzeugungstäter.?
Ist ein Berufsverbot da nicht humaner als die Sicherungsverwahrung? Sind solche Argumente dem Staatsanwalt Kalf, der mit solcher Verbissenheit hinter Axels Beleidigungen her ist, zuzutrauen? Irgendetwas muß er sich ja denken, auch bei dem bisher letzten Verfahren, das er gegen ihn anstrengt: daß Axel während der Freistunden einen Schließer als "ldioten" bezeichnet habe, soll demnächst vor ein Schöffengericht behandelt werden.
Wenn ich Herm Kalf als Vertreter einer technokratischen Juristengeneration um die 40 bezeichne, die durchaus intelligent und flexibel, sowohl ohne demokratisches Gewisssen als auch unbehelligt von dem diffusen Unbehagen derer, die da bruchlos von gesundem Volksempfinden auf Rechtsstaat umschalten mußten, in die oberen Posten der Rechtspflege zu drängen beginnt, wird es ihm nicht leicht fallen, daraus eine Beleidigung zu machen. Ein "Idiot" wäre eindeutiger.
Wenn ich das Recht als eine Hure der Macht bezeichne, wird er dies nicht einmal besonders originell finden. Als RalfAxel Simon aber in seinem vorletzten Prozeß eine Richterin als"Nutte" bezeichnete und dies damit begründete, daß sie ihren Kopf an die Herrschenden verkauft habe, waren in den Augen der Richterin Petzold drei Monate fällig.
Wegen "menschlicher Unreife und Kulturlosigkeit", aber auch zur "Verteidigung Rechtsordnung".
Im Gespräch drückt auch sie sich klarer aus: "Sowat sagt man nicht!" Ihre Kollegin sei in ihrer Würde als Frau verletzt worden und daß er sie außerdem als "kleine Kanalratte" und "nicht dumme Kuh" bezeichnet hat, war zwar geschickt, aber sie konnte er damit nicht täuschen.
Das verstehe ich.
Für ein den Fahndungsplakaten des BKA ( ... die zum auskreuzen) nachempfundenes Plakat, auf dem unter der Überschrift "Terroristen" vier Berliner Senatoren für Knastneubauten verantwortlich gemacht werden, die als "Knastghetto", "perfekt funktionierende Knastmaschinerie", "im Bau angelegte psychische Folter", "nach außen hygienisch sauber, das Leben innen klinisch tot" bezeichnet werden, hat sie ihm weitere sechs Monate wegen Verunglimpfung des Staates aufgebrummt "Der Leser soll erkennen, daß die Mißachtung elementarer Menschenrechte von Gefangenen eine legale Grundlage habe, folglich die verantwortlichen Repräsentanten Menschen vernichten könnten" interpretiert sie, und das gibt Knast.
Weil nicht sein kann, was nicht sein darf.
Aus drei und sechs machte sie sieben Monate.
Die Begründung für die Strafzumessung ist beachtlich.
Zu seinen Ungunsten führt sie an, daß er bisherige Verurteilungen sich "nicht hat zur Warnung dienen lassen und uneinsichtig auf seiner staatsfeindlichen Gesinnung beharrt.
Zu seinen Gunsten wurde berücksichtigt, daß er mit derartigen Aktionen die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung nicht anspricht, die verfassungsmäßige Ordnung nicht ernsthaft gefährden kann, sondern nur sein eigenes Leben zerstört. ( ... ) Obwohl der sensible Angeklagte unter dem Strafvollzug leidet, nimmt er sich durch die Ankündigung, den Kampf gegen das'verhaßte System' fortzusetzen und absichtlich gegen Gesetze zu verstoßen, jede Chance, daß ihm eine günstige Sozialprognose gestellt werden könnte.
Sein blinder Haß bewirkt einen Realitätsverlust für die eigene Situation und steht einer positiven Entwicklung entgegen."
Wie weit ist es bitteschön von hier zur Psychiatrisierung? Nicht diese Wörter "Wissen Sie, mir tut er leid", sagt Frau Petzold nach dem bisher letzten Verfahren.
Es wurde eingestellt, mangels Beweise.
Herr Simon war plötzlich nicht mehr bereit, sich zu diesem 'Knastblatt' zu bekennen.
Damit hatte der gelangweilte Herr Peters vom Staatsschutz nicht gerechnet, wir sprachen bereits davon.
"Das ist genau der Stil, wie ich das nun schon seit über 50 Nummern kenne", versucht er das Gericht zu überzeugen.
Das'Knastblatt'stammt übrigens tatsächlich nicht von Axel.
Er hat Nachfolger gefunden für seine Arbeit - allerdings alternative.
"Das sieht heute ganz anders aus, sagt Peters, "da kümmere ich mich ja schon gar nicht mehr drum."
Im Gerichtssaal sieht es auch anders aus.
Die Luft ist raus, wie man so sagt.
Auch die Freunde, die noch kürzlich bei der "Nutte" Beifll klatschten, sind weggeblieben.
Außer mir sitzt nur noch Axels Freundin im Zuschauerraum, ihr Baby auf den Knien.
Als sie es stillt, "sieht es niemand" und ich denke, mit dem 'Knastblatt' könnte das doch genauso funktionieren.
Die Gerichtsschreiberin findet Kinder , "einfach unwiderstehlich", es liegt ein Lächeln in der Sommerluft.
Auch sie hat ein Herz für Axel und versteht deshalb gar nicht, wie der sowas machen kann. "Es ist eben doch so: da ist der Kopf und da ist die Wand.
Da ist der doch selber schuld! Mir tut er leid.
Er sieht auch schon viel schlechter aus als beim letzten Mal."
Frau Petzold findet das auch. "Ganz abgemagert sieht er ja schon aus.
Ich hab mir heute morgen überlegt, ob ich ihm Apfelsinen mitbringen soll. Der Herr Peters hatte ihm das nämlich schon beim letzten Mal versprochen, aber vergessen.
Und ich sage Ihnen, ob Sie es mir glauben oder nich", Frau Petzolds Blick bekommt etwas Heroisches, "wenn ich schon auf Lebenszeit verbeamtet wäre - dann hätt ich es getan!" Ich bin überwältigt.
Aber sie ist noch nicht fertig.:"Und Knastarbeit soll er ja ruhig machen, da ist ja wirklich nicht alles Gold, das ist ja wahr.
Wenn er nur diese Wörter nicht immer benutzen würde.
Er könnte doch auch so bissig schreiben, wegen auch zynisch, er müßte doch nur diese Wörter weglassen.
Weil danach liest der Staatsanwalt die Dinger doch nur, die sucht der doch bloß."
"Es geht nicht um die Wörter", sagt Axel, "sondern um meine Arbeit.
Es geht darum, meinen Widerstand zu kriminalisieren, weil ich gezeigt habe, daß man etwas machen kann gegen den Knast."
Und Knast, meint er, sei die "Speerspitze des ganzen Systems".
Da hat er ein bißchen Sand ins Getriebe gebracht, darauf ist er stolz, und vielleicht da und dort etwas mehr Menschlichkeit erreicht und etwas weniger Fatalismus, etwas mehr Mut bei diesem und jenem.
Er hat recht.
Es nicht um diese Wörter.
Es geht um diese Haltung, der sie als Vehikel dienen..
"Ich will mich so wenig wie möglich verkaufen", nennt Axel das.
Ganz ließe sich das nicht vermeiden, es gibt kein richtiges Leben im falschen, aber wenigstens so wenig Kompromisse wie irgend möglich.Bei Axel ist das nicht eine leere Phrase, nicht -wie so oft - der Vorläufer ebenso unduldsam zynischen Bewußtseins. Eben diese Haltung kann eine Justiz, deren Logik es ist, zu brechen was sich nicht beugen läßt, nicht ertragen. Daß sie dabei selbst zur Pose verkommt, liegt wahrscheinlich nicht zuletzt daran, daß sie auch Freunden nur schwer erträglich ist.So macht sie einsam, zur Bewundemng freige geben.
"Uff ene Art is det'n Held, ooch wenn er`n Spinner ist", vertraut mir einer der Schließer an, als ich wieder durch die Hochsicherheitsschleuse nach draußen gehe, "weil der nich uffgibt, bei nüscht."
Benny Härlin Ralf-Axel und die Justiz Der Herausgeber des "Knastblattes" fand einen milden Richter (aus: DIE ZEIT-Nr.12-14.März 1986) von Klaus Pokatzky West-Berlin Nein, der Angeklagte will nichts sagen. Der Angeklagte ist auch nicht bereit, sich zur Person zu äußern, und er will auch nicht sagen, ob seine Vornamen Ralf-Axel sich mit Bindestrich schreiben oder nicht.
"Als letzten Satz, den ich vor deutschen Gerichten gesagt habe", will der Angeklagte vielmehr gewürdigt wissen daß "ich seit sechs Jahren mit der deutschen Justiz zu tun habe und mir dauernd das Wort im Mund rumgedreht wird".
"Aber ich habe doch gar nich Axel Ralf zu Ihnen gesagt", mokiert -sich der Richter.
Er bitte um "Kommunikation". "Wir wollen doch ein Ergebnis erreichen."
Die Verteidigung bittet um "'ne Minute Pause'".
Angeklagter und Verteidiger verschwinden auf dem Gang, um zu beraten, wie sie es mit der Kommunikation im weiteren Verfahren halten wollen. Der Richter Hagen Hillebrand, Vorsitzender der 10. Großen Strafkammer beim Landgericht Berlin, lehnt sich in seinem Stuhl zurück. Dreißig Zuhörer rutschen auf den Bänken hin un her.
Die meisten sind mit ihrem Lehrer da, Schülerinnen und Schüler einer Erzieherschule.
Der Richter sieht ins Publikum.
Ganz ruhig und beherrscht.
Die Zuhörer blicken auf den Richter.
Erwartungsvoll.
Er dürfe jetzt, solange Angeklagter und Verteidiger noch draußen seien, natürlich nicht die Verhandlung fortsetzen, sagt der Richter Hillebrand Aber man sehe eben doch, "das Verhältnis zwischen Justiz und Öffentlichkeit ist oft ein sehr gestörtes".
Der Staatsanwalt blickt angestrengt in seine Brillengläser, der Protokollbeamte konzentriert sich auf das Fenster.
"Wir wollen es hier ja nicht auf Kinospannung treiben", erzählt Richter Hillebrand, "es geht ja darum, eine sachliche Lösung zu finden."
Bevor der Richter erklären kann, welche Probleme ihm das Verhältnis zwischen Justiz und Öffentlichkeit bereiten, geht gottlob die Saaltür auf, Angeklagter und Verteidigung erscheinen wieder.
"Er heißt Ralf-Axel mit Bindestrich" , stellt der Verteidiger fest, "ist Berliner und verheiratet."
Angestellter 32 Jahre alt, 1400 Mark im Monat, keine Kinder.
Der Angeklagte beschäftigt in der Tat die Berliner Justiz und diese ihn, und es geht dabei, im weiteren Sinne, um das Verhältnis zwischen Justiz und Öffentlichkeit.
Es geht um den Kampf des Ralf-Axel S. gegen die Justiz und den Kampf der Jutiz iz gegen Ralf-Axel S. Es ist nicht die Regel, daß es, bei aller Verkrampfung und Verklemmtheit, die im Saale herrscht, so relativ friedlich zugeht wie unter dem Richter Hagen Hillebrand.
Insgesamt zwölfmal hat der Angeklagte in den letzten sechs Jahren vor Berliner Gerichten gestanden und ist zu vielerlei Strafen verurteilt worden, zu Geldbußen und Haft.
Abgesessen hat er 16 Monate.
Dazu kommen noch anderthalb Monate Untersuchungshaft und einige Wochen Ordnungshaft für ungebührliches und beleidigendes Benehmen vor Gericht. Kein Richter braucht es sich ja gefallen zu lassen, wie der Richter Hildebrand das an seinen zwei Verhandlungstagen tut, daß der Angeklagte sich noch nicht einmal zu seiner Person äußert und daß er einfach die ganze Zeit über auf seinem Hintern sitzenbleibt, weder aufsteht, wenn das Gericht den Saal betritt, noch, wenn das Urteil verkündet wird. Doch die Berliner Justiz ist ihres Kampfes mit Ralf-Axel S. offenbar müde. Sie möchte seinetwegen keine negativen Presseberichte mehr - und hat sie ihn, ganz imVertrauen, am Ende nicht auch kleingekriegt? Das Knastblatt erscheint doch schon seit Jahren nicht mehr - das Knastblatt, mit dem Ralf-Axel S. gegen die Justiz seinen Privatkrieg führte. Ralf-Axel S. ist gelernter Religionslehrer.
Als er Mitte der siebziger Jahre mit seinen Schülern nicht nur das italienische Arbeiterlied "Avanti Popolo" einstudierte, sondern auch von möglichen moralischen Motiven der Entführer des Berliner CDU Vorsitzenden Peter Lorenz sprach, durfte er nicht mehr unterrichten. Nach dem "heißen herbst" des Jahres 77 fing er dann an, sich um Häftlinge zu kümmern, erst - in der "Roten Hilfe" - vor allem um "politische", dann um alle, die seine Hilfe brauchen konnten.
Zu Weihnachten und Ostern organisierte er paketaktionen. Bekannt in Szene und Justizkreisen wurde er mit seinem Knastblatt.
Als Redakteur, Verleger und Verteiler brachte er das Anfang der chtziger Jahre heraus, alle 14 Tage im DIN-A4-Format, in einer Auflage bis zu 25000, die er einzeln verteilte oder alternativen Stadtzeitschriften beilegte.
Auf einer Gesamtauflage von mehr als einer Million haben es seine mehr als 60 Knastblätter gebracht, über 100000 Mark hat Ralf-Axel S. für die Knastarbeit ausgegeben.
Das war nur möglich, weil er all die Jahre über als Zeitungsausträger des Berliner Tagesspiegel ein Nettoeinkommen von 2500 Mark im Monat erarbeitete und für seine persönlichen Bedürfnisse davon gerade mal den Sozialhilfesatz abzwackte.
Er ist ein Unikum in der Szene, der "Knastblattaxel", wie ihn die taz tituliert, mit seinen weit über die Schultern fallenden Locken, dem vollen Bart und den sanften Augen.,
Wenn er sein Knastblatt schrieb, gab er sich allerdings gar nicht sanft.
Da schlug er zu. Gegen Mißstände im Berliner Strafvollzug griff er voll in die Tasten.
Polizisten, Vollzugsbeamte, Senatoren bekamen ihr Fett ab:"Graue Ratten mit Schlüsselgewalt", "Justizschweine", "Staatsverbrecher".
Das alles erfüllte den Tatbestand der Beleidigung, auch der Verunglimpfung des Staates, der üblen Nachrede, des Verstoßes gegen das Berliner Pressegesetz. Als Richter Hillebrand jetzt Passagen aus einem Urteil des Landgerichtes Berlin vom vorigen Jahr verliest, haspelt er die lange Liste der Strafen so schnell herunter, daß man davon kaum ein Wort verstehen kann. Und schon gar nicht ist etwas zu verstehen von den Passagen des landgerichtlichen Urteils, in denen Vorwürfe, die Ralf-Axel S. gegen den Vollzugsinspektor A, in sleinem Knastblatt erhoben hatte, als wahr unterstellt werden. Auch das Landgericht ging nämlich im vorigen Jahr davon aus, daß der Beamte A. Zellen von Häftlingen in einer Weise durchsuchen ließ, daß sie "hinterher unbewohnbar" waren, auch, daß dabei "Nahrungsmittel ausgeschüttet" wurden - ja, die Richter mochten damals noch nicht einmal Einwände gegen den Knastblatt-Satz aus dem Jare 1981 erheben, der sich mit den "säuischen Methoden des Sicherheitsinspektors" A. befaßt:"... hat oft haschisch auf die Zellen von gefangenen gelegt, um diegefangenen anschließend zu diszilinieren - außerdem hat er aussagen von gefangenen mit urlaub und anderen versprechungen erpreßt!" Die Berliner Justiz hat dem Ralf-Axel S. solche Sätze auf ihre Weise heimgezahlt. Als er, vom Sommer 1983 bis Anfang 1985, eine Haftstrafe verbüßen mußte, war für seine Haft ausgerechnet jener Inspektor A. zuständig, und die Justizbehörden ließen sich durch keine Einsprüche und Proteste seines Verteidigers Christian Ströbele von dieser Personalwahl abbringen. Ralf-Axel S. und die Justiz gingen nicht besonders fein miteinander um. Wobei man Ralf-Axel allerdings zugute halten muß, daß er seine Pamphlete stets mit Namen, Anschrift und Adresse versah. Der Berliner Staatsschutz und die politische Abteilung der Staatsanwaltschaft hatten es wahrlich nicht schwer mit ihm. Unter den Wust von Urteilen, die mal rechtskräftig wurden, mal nicht, und unter die vielen neu hinzugekommenen Verfahren muß nun der Richter Hagen Hillebrand den Schlußstrich ziehen. Sogar der Staatsanwalt ist bereit, einen Teil der Anklage , fallenzulassen, und zum Schluß geht es im wesentlichen noch um Verunglimpfung des Staates in Tateinheit mit Vert stößen gegen das Berliner Pressegesetz. Richter Hillebrand macht es milde. Er verurteilt den Angeklagten zu zwölf Monaten auf Bewährung, verhängt auch keine Ordnungsstrafe, als der bei der Urteilsverkündung sitzen bleibt.
Zum Schluß hofft er sehr, daß es nicht nötig sein wird, die Bewährung wieder aufzuheben. Auch hofft er, "daß wir nicht nur dieses Verfahren, sondern auch die Grippewelle überstehen und alle weiteren Anfälligkeiten".
Der Angeklagte ist glücklich.
Er hatte eigentlich mit einer weiteren Haft gerechnet - und die bereits abgesessenen 16 Monate haben ja schon genug Wunden hinterlassen - ".ob die vernarben oder heilen, wird man sehen".
Nein, er sieht sich nicht als Märtyrer, und wenn er, auch von manchem Freak, belächelt wird, "dann ist das okay ich werde lieber belächelt als bestraft".
Es gehe ihm ja nur darum, am Ende kein schlechtes Gewissen haben zu müssen, sondern sagen zu können: " Okay, du hast viel Mist gebaut, aber immer nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt."
Deshalb natürlich weiter Knastarbeit - denn "der Knast ist schließlich so ein Stück Speerspitze dieser Gesellschaft, dieser Repression: auf acht Quadratmetern ein halbes Leben leingesperrt sein" Die Gefahr dabei, noch mal in Konflikt mit der Justiz zu kommen, ist gering.
Gegen die Knastarbeit, der er sich jetzt verschrieben hat, kann kein Staatsanwalt etwas einwenden.
Ralf-Axel S. kümmert sich jetzt nämlich darum, daß die Spendengelder des Kontos Nummer 26 011 604 bei der Berliner Volksbank richtig verwendet werden-:Er betreut bei der taz den "Verein Freiabonnements für Gefangene e. V.".
Motto: "Knackis brauchen Infors - spendet Knast-Abos!" von Klaus Pokatzky aus der taz am 7.12.87 Die Frage nach der Wahrheit von Holger Schacht Ralf-Axel Simon, `Knastblatt`- Heruasgeber mit Berufsverbot, kämpft für Lasker-Steglitz in der Schach-Bundesliga - in einer Welt, die nur schwarz oder weiß kennt/Schach als Hilfe gegenIsolationshaft Über ihn wurde schon viel geschrieben, geredet und gerichtet.`Knastblatt-Axel`war und ist seinSpitzname, `ein rast- und bedingungsloser Einzelkämpfer`hat man ihn genannt oder auch `ein sensibler Mensch mit einem ungeheuren Gerechtigkeitsempfinden`. Zweimal wurde er mit Berufsverbot bedacht:Mitte der siebziger Jahre, als der Religionslehrer Ralf-Axel Simon mit seinen Schülern über die Entführung von Peter Lorenz diskutierte und zu dem Schluß kam, die `Bewegung `2. Juni` hätte aus selbstlosen Motiven gehandelt. 1983 wurde ihm verboten, den Beruf des Verlegers, Redakteurs oder Journalisten auszuüben. Zwei Jahre lang. Das von ihm herausgegebene `Knastblatt` traf ganz und gar nicht den Geschmack der Obrigkeit. Von `grauen Ratten mit Schließermacht` war da die Rede, von `Bullen und Justizschweinen`.
Wegen seiner Veröffentlichungen und weiterem Ungehorsam mußte Ralf-Axel Simon selbst hinter Gitter, zu den Menschen, denen er von draußen hatte helfen wollen und es über Jahre auch getan hattte.
Anderthalb Jahre Knast, davon monatelang in Isolationshaft, eine ganze Menge für Wörter und Gesten. Noch heute ist er nur auf Bewährung in Freiheit.
Zur Zeit arbeitet er bei der taz, ist zuständig für die Gefangenen-Betreuung.
Über 150.000 Mark sammelte er in diesem Jahr an Spenden für rund 1.300 Frei-Abos.
Doch damit soll zum Jahresende Schluß sein.
Axel möchte sich ganz seinem Buch, einem Roman mit autobiographischen Zügen, und einem Spiel widmen: Schach.
"Als ich in Isolationshaft saß, war das Beschäftigen mit der Schach-Fachliteratur ungeheuer wichtig für mich", erzählt Ralf-Axel Simon, und fügt hinzu:"Um meinen Geist und Verstand rege zu halten, analysierte ich hunderte Partiestellungen blind, also ohne Ansicht des Brettes".
Diese Gabe - zu dem nicht nur langes Training, sondern auch Phantasie erforderlich ist - unterscheidet die Experten von den Anfängern, den Kaffehausspielern, trennt die Spreu vom Weizen.
Axel ist ein Könner.
Bei der letzten Berliner Meisterschaft wurde er Vierter und er gehört zum Kader des Erst-Bundesligateams von Lasker Steglitz Berlin.
Vielleicht ist Schach seine Flucht aus den gesellschaftlichen Verhältnissen. Hier ordnet er sich unter, erkennt Ungerechtigkeiten an und hat nicht unendliches Verständnis, sondern sieht schwarz und weiß.
Dabei kämpft er nicht so sehr mit seinem Gegner, sondern gegen Schach-Stellungen und mit sich selbst. Schon oft konnte man ihn dabei beobachten, wie er fast schon gewonnene Partien am Ende doch noch verdarb - aus Gründen der Zeitnot.
Denn jedem Spieler stehen bei Turnier-Partien nur 2, 5 Stunden für 50 Züge zur Verfügung.
Für Axel ist das meist zuwenig.
Die letzten Züge vor der Zeitkontrolle muß er häufig in Sekundenschnelle ausführen.
Beim Schach stellt er nicht die Frage, ob Sieg oder Niederlage gerecht oder ungerecht waren.
Er stellt, wie im Leben, die Frage nach der Wahrheit.
Axel ist Wissenschaftler und kein Pragmatiker.
Und die Suche nach den besten Zügen kostet eben Zeit.
"Ich will noch mal versuchen, Internationaler Meister zu werden, umreißt er sein neues Ziel.
Ein ziemlich schwieriges Unterfangen.
Denn dieser Titel, verliehen von der Welt-Schachorganisation FIDE, erfordert mehrmals äußerst starke Leistungen auf internationalem Niveau.
Als erste Station hat er sich Zürich ausgesucht.
"Günstige Unterkunft, und in der Schweiz zu trampen dürfte lauch kein Problem sein".
Ralf-Axel Simon demnächst also Schach-Profi auf Rädern? "Nein, nein", wehrt er ab, "das muß erst noch abgewartet werden."
Von Turnier zu Turnier zu reisen und mit Preisgeldern sein Leben zu finanzieren, das könne er sich nicht vorstellen.
Eher käme da schon in Frage, Schach-Bücher zu schreiben und Training zu geben. Das klingt bei ihm so, als sei er die Konfrontationen, den Kampf um den Sieg, ein bißchen leid.
Und als ich im Laufe eines Gesprächs mit ihm Weltmeister Kasparows Satz "Das Blut, auf das die Fans warten, wird fließen" zur aktuellen Schach-WM zitiere, da tippt sich Axel unmißverständlich an die Stirn.
Holger Schacht.
Burghard Schröder in seinem Buch "Unter Männern- Brüder, Kumpel, Kameraden" Rowohlt Taschenbuch Nr. 1280: SCHACH DEM STAATSANWALT! Relativ selten sagt ein Spieler der Schach-Bundesliga die Züge seiner Partie durch das Abflußrohr eines Klosettbeckens an.
Wenn er aber Gefangener in der Strafanstalt Berlin-Moabit ist, dem berüchtigsten und nach Meinung vieler Häftlinge härtesten Knast Deutschlands, muß er manchmal ungewöhnliche Wege gehen, um durchzusetzen, was er will.
Würde das Toiletten-Fernschach entdeckt, setzte es Prügel, und das nicht zu knapp.
Auf den so zur Einhaltung der Anstaltsordnung 'überredeten' Knacki wartet anschließend der 'Bunker', die Arrestzelle.
Der Gefangene Ralf-Axel Simon muß daher warten, bis der Schließer, wie alle seine Kameraden auch 'Harro'genannt, um 18 Uhr durch den Spion der Zellentür geblickt hat, um sich zu vergewissern, daß der Strafvollzug seinen geordneten Gang geht.
Dann ist, so die Erfahrung, bis 21 Uhr keine Kontrolle mehr zu befürchten.
Zwei minuten nach sechs Uhr, der Schließer hat die Zellentür soeben passiert, greift sich Ralf-Axel den Aufwischlappen, verkneift sich allzu heftiges Durchatmen und tunkt ihn in den 'Bello'.
Das ist der Kosename für das schmutzigbraune Klosett.
Nachdem er den Lappen ausgewrungen hat, wiederholt er den Vorgang so lange, bis das Wasser aus dem Abflußrohr gesaugt ist.
Dann das vereinbarte Klopfzeichen: drei Schläge gegen die Kloschüssel.
Das Haustelefon funktioniert tadellos.
Die Stimme des Gefangenen aus der Zelle über ihm, seinem Spielpartner, tönt deutlich durch die 'Rohrleitung':"Grüß dich, Ralf-Axel!", hallt es von oben, "Bauer e2 nach e4!" Nach diesen Vorbereitungen ist ein geordneter Spielverlauf aber noch nicht garantiert.
Ralf-Axel gilt in den Augen der Justiz als ein besonders aufrührerischer und gefährlicher Gefangener.
Ein Schachspiel darf er nicht besitzen weil das den Frieden des Vollzuges stören, sogar für einen Ausbruchsversuch mißbraucht werden könnte.
Der Häftling mußte sich daher zwischen Kommunikation mit seinen Kameraden oder einem ausreichenden Frühstück entscheiden.
Mit dem Anstaltsbrot läßt sich nämlich mit etwas handwerklichem Geschick ein leidliches Schachspiel herstellen, da die vier Scheiben, die des Morgens serviert werden, ohnehin die Konsistenz vom Knetgummi haben.
Aus der Rinde der leicht formbaren Masse entstehen schwarze, aus dem hellen Teig weiße Figuren.
Ein Stück Papier mit aufgemalten Quadraten dient als Brett.
Ralf-Axel wäre als Schachprofi durchaus in der Lage, seine Partien blind, das heißt ohne Ansicht der Figuren und des Brettes, zu spielen.
Nur ist er nicht der Mann, der sich mit Maßnahmen der Justiz abfindet. Seit mitte der siebziger Jahre kenne ich ihn als den 'Knastblatt-Axel'.
Bekleidet mit dem obligatorischen grünen Parka, den dazu im Stil passenden wallenden Haaren und einem Bart, den man heute fast nur noch bei Überzeugungstätern der älteren Generation antrifft, verkaufte er jahraus, jahrein Zeitungen in Szene-Kneipen, in den Mensen und in der Technischen Universität.
Alle zwei Wochen produzierte er - manchmal mit Freunden - das 'Knastblatt', ein beidseitig eng bedruckter DIN-A-4 Bogen mit Nachrichten und Informationen aus und über bundesdeutsche und Berliner Gefängnisse.
Gegen dieses Knastblatt und den Verleger, Redakteur und Journalisten in Personalunion strengte die Justiz, insbesondere ein besonders ehrgeiziger Staatsanwalt Kalf, der politischen Abteilung zugehörig, über fünfzig Ermittlungsverfahren an, wegen 'Beleidigung sowie anderer Straftaten', darunter häufig der unvermeidliche und mit fast sportlichem Ehrgeiz der Beamten des politischen Staatsschutzes nachgewiesene 'Verstoß gegen das Berliner Pressegesetz".
Ralf-Axel Simon, der sich so aufopfernd für Gefangene eingesetzt hatte. daß sogar enge Freunde den Kopf schüttelten, landete selbst im Knast.
Zwei Jahre und vier Monate hat er abgesessen, davon drei Monate in Totalisolation, den Rest in verschärften Vollzug.
Die für 'normale' Gefangene selbstverständliche Aussetzung der Strafe nach zwei Dritteln der Zeit blieb ihm versagt, denn Ralf-Axel bestand bei der Anhörung darauf, weiterhin Gefangene zu betreuen.
bei Herrn Simon, so der zuständige Beamte, sei deshalb keine 'Resozialisierung' zu erwarten.
Seit einigen Monaten ist er in Freiheit.
Ich treffe ihn unvermutet an einem für uns beide seltsamen Ort, dem noblen Berliner Hotel 'Intercontinental'.
Ralf-Axel kämpft wie immer, nur jetzt am Schachbrett in einem mit mehreren Großmeistern besetzten Turnier. Er will die Norm für den 'Internationalen Meister' erreichen.
Wie kann man achtzehn Monate isoliert in einer Zelle verbringen und trotzdem seinen Verstand behalten? "Ich habe gelernt, damit umzugehen", meint er lächelnd.
Seine Augen faszinieren mich. Da ist etwas, was bei mir Verwirrung auslöst. Dieser Mann lebt das, was er denkt und sagt, er lebt es so total und kompromißlos, daß ich Angst vor ihm bekommen könnte.
Ein Freund sagt über ihn:"Axel war für mich der vollkommene Vertreter des kategorischen 'Da-muß-man-doch-was-tun!', und gerade dieser gewisse, offene Blick mobilisiert in mir sofort sämtliche Abwehrsysteme gegen dieses ewige schlechte Gewissen, das besonders gute Menschen bei einem durchschnittlichen Sünder unweigerlich auslösen."
Jemand, der durch seine beharrliche politische Arbeit die Staatsgewalt zur wutschnaubenden Raserei provoziert, der zwei Jahre Knast überstanden und sich durch Schach geistig am Leben gehalten hat, verkörpert für mich einen Mythos, wie direkt aus Stefan Zweigs berühmter 'Schachnovelle' entsprungen.
"Ein Mensch, der sein ganzes Leben der Politik und der Solidarität unterordnet, hat etwas ebenso Bedrohliches wie Mitleiderweckendes", schreibt ein Journalist über ihn.
Diese moralische Standhaftigkeit, dieser feste, protestantische Glaube, die Überzeugung würde erst durch Leiden geheiligt, dieses unerschütterliche Gefühl, gegen alle Anfeindungen richtig zu handeln und dafür auch die schärfste Verfolgung des Staatsapparates in Kauf zu nehmen, erinnern mich an Schachspieler, die sich für einen Angriff am Königsflügel entschieden haben und den Gegner auf der anderen Seite, am Damenflügel, durchbrechen sehen.
Es gibt kein Zurück mehr, dann wäre die eigene Spielanlage widerlegt und alles verloren, weil die Figuren schon vorgestürmt sind.
Also bleibt nur die Flucht nach vorn! So sanft, wie Ralf-Axel im persönlichen Umgang redet und sich bewegt, so freundlich er auf seine Umgebung wirkt, so spielt er auch Schach.
Er liebt einen vorsichtigen, nach positionellen Gesichtspunkten vollzogenen Aufbau.
Ich fühle mich fast liebenswürdig von seinen Figuren eingeladen, doch endlich einen Angriff zu versuchen.
Bitte sehr, der verehrte Gegner möchte doch die Güte haben, endlich vorzurücken! Natürlich erleide ich ein Fiasko.
Seine Stellung ist rundum abgesichert.
Um gegen sie anzurennen, muß ich meine Verteidigung entblößen, was mir promt zum Verhängnis wird. Mit dem Staatsanwaltschaft Kalf, der nur wenige Jahre älter ist als er, verstrickt sich Ralf-Axel unentwirrbar.
Beide teilen auf allen Ebenen Schläge aus.
Ralf-Axel schreibt ihm aus der Schweiz eine Ansichtskarte: "Liebster Staatsanwalt! Ich bin im Urlaub.
Umarmung und Gruß! Dein Ralf-Axel." Der Staatsanwalt revanchiert sich.
Er läßt Ralf-Axel - ohne dessen Wissen - von seinem Wohnsitz abmelden, wie dieser mir verschmitzt lächelnd erzählt, um so einen Haftbefehl wegen 'Fluchtgefahr'erwirken zu können.
In den ersten drei Monaten der Haft durfte Ralf-Axel keinen seiner Mitgefangenen sehen oder sprechen, weil er sich der Schirmbilduntersuchung wegen der hohen Strahlenbelastung widersetzte.
Nach einem Vierteljahr gab die Anstaltsleitung nach.
"Du bist ständig bemüht, deine Gefühle zu unterdrücken, auch wenn du dich über das finstere Gesicht des 'Schlüsselknechtes' freust weil er das einzige ist, was du wochenlang siehst.
Du darfst dein Ausgeliefertsein nicht zeigen, sonst hältst du es nicht aus."
Wie hat ihm das Schachspiel über die Isolation hinweggeholfen? Der Verstand müsse sich an etwas klammern, meint er.
Schach sei ein in sich geschlossenes, aber vielseitiges System.
Allein die Varianten der Königsbauern-Eröffnung ergeben, bis auf zehn Züge berechnet, eine unglaubliche Anzahl von Möglichkeiten.
Dabei kommt es noch nicht einmal darauf an, gegen sich selbst zu gewinnen und sich der Gefahr einer Bewußtseinsspaltung wie der literarische Dr. B. der 'Schachnovelle' auszusetzen. Es reicht, um sich zu beschäftigen und geistig rege zu halten, Stellungsmerkmale zu beurteilen und Tendenzen zu beobachten, die ein eventuelles Weiterspielen beeinflussen könnten.
Das Schachspiel aus Brot wurde Ralf-Axel bei einer Zellenfilzung vernichtet. Nach einigen Monaten organisierte er sich - er will nicht verraten, wie - ein Taschenschachspiel.
"Freunde haben mir ein Schachlehrbuch geschickt.
Ich habe Varianten über Varianten gepaukt, vor allem die Sizilianische Verteidigung.
Irgendwann will ich Schachprofi werden und damit Geld verdienen.
Während der Haftzeit habe ich viel Theorie nachgeholt.
Aber Schachspielen ist gefährlich..."
Gefährlich? Das von einem Schachmeister?
"Du kannst dich im Schach verlieren, ewig im Kreis denken.
Die Kontakte zu deinen Mitmenschen verlieren an Bedeutung.
Schach hilft dir über die Einsamkeit hinweg, isoliert dich aber gleichzeitig von den anderen. Das ist etwas für Menschen, die Angst haben."
Ralf-Axel hat die Einsamkeit der Zelle überstanden.
Natürlich macht er wieder Knastarbeit: er betreut bei der alternativen 'Tageszeitung' den 'Verein Freiabonnements für Gefangene e.V.'
Sein Motto:Knackis brauchen Infos-spendet Knast-Abos! Und Schach?
"Demnächst fahre ich nach Budapest.
Beim Berliner Turnier habe ich meine 'Internationale Meister-Norm' nicht erreicht, aber das werde ich in Ungarn bestimmt nachholen!" sagt er beim Abschied.
"Uff eene Art is det`n Held, ooch wenn er`n Spinner ist", offenbarte sich einer der Schließer im Knast einem Journalisten, der Ralf-Axel besucht hatte.
"Weil der nich uffgibt, bei nüscht."