Zum Tod des israelischen Faschismusforschers Zeev Sternhell

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FASCHISMUSFORSCHUNG
Keine Tabus
Zum Tod des israelischen Faschismusforschers Zeev Sternhell
von Volkmar Wölk
"Junge Welt" 24.06.2020 / Antifa / Seite 15

Foto Zeev Sternhell im Januar 1983

Der israelische Historiker Zeev Sternhell
ist am Sonntag im Alter von 85 Jahren gestorben.
»Der Holocaustüberlebende, Kriegsveteran und revolutionäre Denker
veränderte die Sichtweise der Wissenschaft auf die extreme Rechte
und warnte vor dem Ende der Demokratie in Israel«,
beginnt die liberale israelische Tageszeitung Haaretz ihren Nachruf auf Sternhell,
einen weltweit anerkannten Faschismusforscher.
Unermüdlich warnte er davor, dass der Faschismus
keineswegs mit dem Ende der faschistischen Diktaturen verschwunden sei,
sondern immer Teil unserer Welt bleiben werde.
444 Seiten umfasst die 1983 erschienene erste Auflage
seines wohl bekanntesten Werkes, »Ni droite ni gauche. L’idéologie fasciste en France« (Weder rechts noch links.
Die faschistische Ideologie in Frankreich), 1.075 Seiten die 2012 publizierte vierte Auflage.
Das Werk wuchs in der Auseinandersetzung mit Sternhells Kritikern.
Diese waren zahlreich und prominent.
An ihrer Spitze der Doyen der französischen Zeitgeschichtsschreibung, René Rémond.
Sternhell hatte mit seinem Buch
gleich gegen mehrere Tabus der konservativen französischen Geschichtsschreibung verstoßen.
Es galt als unumstößliches Dogma,
dass es eine französische »Allergie« gegen den Faschismus gegeben habe.
Auch habe eine revolutionäre Variante der Rechten in Frankreich nicht existiert.
Sternhell widersprach und lieferte Belege.
Es habe nicht nur einen französischen Faschismus gegeben,
vielmehr lägen sogar die Ursprünge der faschistischen Ideologie dort.
Diese sei nicht als Produkt der politischen, kulturellen und sozialen Krise
nach dem Ersten Weltkrieg entstanden,
sondern bereits vor dem Krieg vollständig ausgebildet gewesen.
Sternhell deutete vor allem den »Cercle Proudhon«,
einen Kreis von Intellektuellen der extremen Rechten
und revolutionären Syndikalisten der Gewerkschaft CGT,
der sich 1911 zusammengefunden hatte,
als »protofaschistisch«.
Bei der »revolutionären« faschistischen Ideologie, darauf beharrte Sternhell – gegen die Kritik nicht weniger linker Historiker –,
habe es sich um einen Bruch mit der bisherigen Ideologie der konservativen Rechten gehandelt.
Und auch darauf: Wesentliche Elemente dieser Ideologie
entstammten einer antimarxistischen Revision des Sozialismus.
Um die Größe der Nation und Ordnung wiederherzustellen,
müssten die unterdrückten und besitzlosen Klassen in die Nation integriert werden.
Dafür sei es unerlässlich, die demokratischen Institutionen zu zerstören.
In Deutschland, wo in der akademischen Zeitgeschichtsforschung
jede Verwendung des Faschismusbegriffs unter Marxismusverdacht steht,
blieb Sternhells Werk lange unbeachtet,
obwohl er seine Untersuchungen zu Frankreich
um eine umfangreiche Studie zu Italien ergänzte
und diese Strömung einer »Antiaufklärung« vom 18. Jahrhundert bis zum Kalten Krieg nachzeichnete,
und obwohl seine Thesen weltweit debattiert wurden.
Sternhells Thesen waren sowohl für die mehrheitlich bürgerlich-konservativen Historiker im Westen
wie auch für die DDR-Geschichtswissenschaft unbrauchbar.
Die andere Ursache ist in dem anhaltenden Missstand zu suchen,
dass die deutsche Faschismusforschung im doppelten Wortsinn national borniert ist.
Sie untersucht Faschismus bis heute überwiegend am Beispiel des NS-Regimes;
ausländische Forschungsansätze werden recht fragmentarisch zur Kenntnis genommen.
Sternhell dagegen untersuchte Faschismus als internationales Phänomen, konzentrierte sich auf dessen Ideologie in der Bewegungsphase.
So streitbar wie im Wissenschaftsbetrieb war Sternhell auch als politischer Akteur in Israel, wohin er mit 13 Jahren emigriert war.
Zeit seines Lebens war er überzeugter Zionist,
Zeit seines Lebens war er überzeugter Sozialist.
Ein Jahrzehnt gehörte er als Vertreter des linken Parteiflügels
dem Zentralkomitee der israelischen Arbeitspartei an.
Bis 1982 nahm er als Offizier an allen israelischen Kriegen teil
und war zugleich als Mitbegründer der Organisation »Frieden jetzt« Stimme der israelischen Friedensbewegung.
Für ihn waren die gültigen Grenzen Israels
jene von 1949, die Annexionspolitik kritisierte er immer wieder heftig.
Das machte ihn zum Hassobjekt der rechten israelischen Siedler.
Ein Kopfgeld wurde auf ihn ausgesetzt,
2008 ein Bombenanschlag verübt, den er verletzt überlebte.
Bis zuletzt war er heftiger Kritiker der israelischen Rechtsregierung.
Diese gefährde die Demokratie,
die Israel im Nahen Osten einzigartig mache,
und die Zukunft der kommenden Generationen.
Mit Sternhell ist eine Stimme der Vernunft verstummt.
Sein Werk bleibt unverzichtbar.