Westberliner Skandal Der Feuertod in der Zelle

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Neujahr 1983/84 Berlin 6 Tote in der Abschiebehaft

die bürgerlich reaktionäre Journaillie
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Westberliner Skandal
Der Feuertod in der Zelle

Wie sechs Abschiebe-Häftlinge im Gefängnis elend umkamen
von Joachim Nawrocki
Die Zeit 6. Januar 1984

West-Berlin, im Januar en vernünftigsten Satz
nach dem Tod von sechs Ausländern in einer brennenden 'Haftzelle sprach der SPD-Abgeordnete Momper.
Er kritisierte zwar die katastrophale Unterbringungs- und Personalsituation in der Abschiebehaft,
aber er warnte zugleich vor voreiligen Schuldzuweisungen.
Gewiß ist das Schicksal der sechs Brandopfer furchtbar,
aber ihren Tod durch ein Feuer, das sie offensichtlich selbst gelegt haben,
in einen direkten Zusammenhang mit der „Abschreckungspraxis von Innensenator Lummer gegenüber Asylbewerbern zu bringen,
wie es die Alternative Liste tat, das ist sicherlich eine zu vordergründige Reaktion.
So einfach liegen die Dinge nicht in einer Stadt,
die durch ihren unkontrollierbaren Zugang aus Ost-Berlin von Asylbewerbern,
illegalen Zuwanderern und Rauschgifthändlern weit mehr belastet wird ab andere Bundesländer.

Was ist geschehen?
In West-Berlin gibt es drei Gewahrsamsstätten für die Abschiebehaft mit zusammen 200 Plätzen:
in der Kruppstraße, in der Gothaer Straße und am Augustaplatz;
im Gewahrsam sind dort etwa hundert Personen.
In der Haftanstalt Augustaplatz waren von 54 Plätzen 42 belegt; es gab also keine Überbelegung,
obwohl die Zahl der Abschiebungen sich 1983 mit rund 1400 gegenüber dem Vorjahr verdoppelt hat.
In zwei der vier belegten, nicht miteinander verbundenen Zellen
brach in der Silvesternacht kurz nach 21 Uhr fast gleichzeitig ein Feuer aus.
Zu der Zeit taten in der Anstalt vier Polizisten Dienst.

Der Alarm kam zu spät

Der Beamte, der das Feuer zunächst in einer Zelle bemerkte,
versuchte mit einem Feuerlöscher die brennenden, aufgestapelten Matratzen zu löschen.
Er wurde dabei von den Zelleninsassen durch die Gittertür mit Fäusten bedroht
und durch eine vor die Tür gehaltene Matratze behindert;
dennoch konnte er die Flammen löschen.
Danach bemerkte er das zweite Feuer in der anderen Zelle.
Wegen der Qualmund Hitzeentwicklung kam er jedoch an die Gittertür nicht mehr heran;
sie war zudem von innen mit einem Handtuch verknotet.

Einer seiner Kollegen hatte inzwischen die Feuerwehr alarmiert;
der Alarm ging dort etwa eine Viertelstunde nach Ausbruch des ersten Brandes ein, sicherlich zu spät.
Ob also die Wachmänner alles Erforderliche unternahmen,
vor allem, was die beiden übrigen Kollegen getan haben,
das ist zur Zeit Gegenstand von Ermittlungen der Staatsanwaltschaft.
Auch die Feuerwehr konnte, als sie endlich eingetroffen war,
die Gittertür zur zweiten Zelle nicht sogleich öffnen; sie war durch die Hitze verzogen.

In dieser Zelle starben sechs junge Männer:

– Der Tunesier Hammed Djelassi, 22 Jahre, illegal und ohne Paß eingereist, kein Asylantrag gestellt, in Abschiebehaft seit 27. 9. 1983;

– der staatenlose Palästinenser Nzar Sleimann, 24 Jahre, Asylantrag rechtskräftig abgelehnt,
wegen Rauschgifthandels zu 15 Monaten Haft verurteilt,
bisher wegen der unsicheren Verhältnisse im Libanon nicht abgeschoben,
am 1. 12. 1983 aus der Strafhaft in Abschiebehaft übernommen;

– der Libanese Kassem Said, 19 Jahre, zweimal wegen Rauschgifthandels zu insgesamt zwei Jahren Haft verurteilt,
Asylantrag abgewiesen, im Oktober aus der Strafhart in Abschiebehaft übernommen;

– Die Tamilen Krishnapillai Velautvapillai (22), Rejasingam Jevakumoran (24) und Kulanthaigopulu Thirunarukkaru (26) aus Sri Lanka,
von denen einer auf Grund eines Fahndungsersuchens aus Heilbronn,
wo er nach erfolglosem Asylantrag abgeschoben werden sollte, festgenommen wurde,
während die anderen beiden nach illegaler Einreise ohne Paß seit Ende Dezember in Haft sind.

Wenige Tage vor dem Brand hatte übrigens Innensenator Lummer
die 1500 in Berlin lebenden Tamilen schriftlich in ihrer Landessprache gebeten, Berlin freiwillig zu verlassen,
wenn sie für einen Asylantrag keine politischen Gründe geltend machen können;
der Senat bietet dafür kostenlose Rückflüge an.

In Abschiebehaft, die ein Haftrichter anordnen muß,
kommen nur verurteilte Straftäter, illegale Zuwanderer oder Asylbewerber,
deren Antrag nach oft jahrelangem Verfahren abgelehnt wurde
und die sich trotzdem weigern, das Land zu verlassen.
Wer aus der Abschiebehaft heraus einen Asylantrag stellt,
der kann freilich dort länger sitzen, als es für diese als Durchgangsstation vorgesehene Haft üblich ist;
aber auch dazu bedarf es einer richterlichen Haftverlängerung.

Die Häftlinge in der Abschiebehaft haben also in aller Regel
sämtliche rechtlichen Möglichkeiten ausgeschöpft
und sind dennoch nicht bereit, freiwillig wieder zu gehen.
Über einzelne Fälle wird man immer streiten können,
aber daß die Bundesrepublik, mit dem liberalsten Asylrecht der Welt,
all die Hoffnungslosen dieser Erde im Lande behalten müßte,
wird auch eine Organisation wie amnesty international im Ernst nicht fordern,
die jetzt von Opfern der „auf Abschiebung bedachten Asyl- und Ausländerpolitik“ gesprochen hat.
Sicher ist die Abschiebung deprimierend für die Häftlinge,
die in eine unsichere Zukunft, in verwüstete Länder wie den Libanon zurück sollen,
oder die in Sri Lanka Hab und Gut für eine Flugkarte verkauft haben
und damit zunächst einmal Opfer von gewissenlosen Schleppern und Anwälten geworden sind.

Eine deprimierte Stimmung hat auch in der Haftanstalt am Augustaplatz geherrscht, wie überlebende Häftlinge aussagten.
Einige der Häftlinge haben sich vor dem Ausbruch des Brandes in andere Zellen verlegen lassen,
zum Teil, weil sie Angst hatten, teils, weil sie nicht wissen wollten, was geplant war.
Daß die Brandstiftung abgesprochen war, gilt als sicher.
Gleichwohl ist unwahrscheinlich, daß ihre Opfer Selbstmord begehen wollten.
Vermutlich wollten sie nur protestieren oder einen Ausbruch vorbereiten.
Die tödliche Gefahr, die von brennenden, mit Kunststoff gefüllten Matratzen in einem geschlossenen Raum ausgeht, haben sie offenbar unterschätzt.
Gegen einige Häftlinge Wird wegen Brandstiftung und Gefangenenmeuterei ermittelt.

Versäumnisse klaren

Die Abschiebehäftlinge in West-Berlin sind schlecht, wenn auch nicht unmenschlich untergebracht.
Das weiß man in der Senatsverwaltung für Inneres.
Das Berliner Abgeordnetenhaus hat 2,5 Millionen Mark für den Ausbau von 80 Haftplätzen bewilligt, der in diesem Jahr beginnt.
Ein Millionenprojekt für die Unterbringung von Polizeihunden hat es dagegen gestoppt.
Die Unterbringung allein kann jedoch kaum ein Grund für einen solchen folgenschweren Protest gewesen sein.

Was da versäumt worden ist an Sicherheitsmaßnahmen und Brandschutz, personeller Überwachung und Ausstattung der Zellen,
das soll nun eine Untersuchungskommission des Senats klären.
Eine Sondersitzung der Ausschüsse für Inneres und Ausländerfragen des Abgeordnetenhauses
hat am Dienstag nur erste Ergebnisse bringen können.
Vorschnelle Urteile tragen zur Wahrheitsfindung ebenso wenig bei
wie das Rundfunkinterview eines Rechtsanwalts,
der den tragischen Fall eines angeblich verbrannten Tamilen schilderte,
der der Polizei weder ab tot noch als lebendig bekannt ist.