Keine einfachen Erklärungen
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"Junge Welt":
31.05.2013 / Inland / Seite 5
Keine einfachen Erklärungen
Podiumsdiskussion zum Thema Neonaziterror in Jena:
Tauchte das NSU-Kerntrio kontrolliert ab?
Von Matthias Gockel
http://anonym.to/?http://www.jungewelt.de/2013/05-31/042.php
Ein Filmabend mit Podiumsdiskussion zum Thema Neonaziterror
mit dem Titel »Wege in den Untergrund«
zog am Mittwoch rund 200 Besucher ins Theaterhaus Jena.
Gezeigt wurde eine TV-Dokumentation von Andreas Kuno Richter über den mutmaßlichen NSU-Terroristen Uwe Böhnhardt,
der sich laut offizieller Version am 4. November 2011 nach einem Banküberfall bei Eisenach mit seinem Komplizen Uwe Mundlos das Leben nahm.
Schüler der Jenaer Lobdeburgschule, die Böhnhardt selbst besucht hatte, führten vor der Kamera ein Gespräch mit dessen Eltern,
die versuchen, das Geschehene zu verstehen
– und die Teenager ermutigen, andere Wege einzuschlagen,
das heißt, rechtsextreme Parolen kategorisch abzulehnen,
»auch wenn es der beste Freund ist«, der sie verbreitet.
Das Interesse des Regisseurs hatte der Jenaer Streetworker Thomas Grund geweckt,
der sich in den 1990er Jahren mit problematischen Jugendlichen auseinandersetzte.
So begegnete er Beate Zschäpe, die zur Zeit in München vor Gericht steht, sowie Mundlos und Böhnhardt.
Auf dem Podium saßen vier Gäste:
Neben dem Regisseur des Films interessanterweise Roland Jahn, in Jena geboren
und seit 2011 Bundesbeauftragter für die Unterlagen des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit,
außerdem Daniel Köhler von der Organisation EXIT, die Aussteiger aus der Neonaziszene unterstützt,
und der Politikwissenschaftler Hajo Funke, emeritierter Professor der FU Berlin.
Funke befaßte sich mit dem gesellschaftlichen Umbruch in Ostdeutschland nach 1990.
Bereits in der DDR habe es rechtsextreme Gruppen gegeben,
die aber erst durch »Westimporte« zu einer gesellschaftlich relevanten Größe geworden seien.
Funke sprach von der »kalten ökonomischen Revolution« der Währungsunion im Juni 1990
und der anschließenden, staatlich einkalkulierten Massenarbeitslosigkeit im Osten.
Diese Faktoren hätten den Erfolg der Neofaschisten begünstigt.
Köhler ging auf die Strategie der Neonazis ein, die Deutungshoheit über Begriffe und die Kontrolle über bestimmte Gebiete zu erlangen,
erwähnte aber auch den Bezug auf »positive Werte« wie Gerechtigkeit oder Freiheit,
der in einigen Fällen die realistische Möglichkeit eines Ausstiegs bedeute.
Mit der Reduzierung rechtsextremer Gewalt auf »pathologische Faktoren« werde aber auch die Gefahr unterschätzt.
Als besonders brisant erwies sich das Thema Verfassungsschutz.
Funke warf in der Diskussion die Frage auf,
ob es sich bei der Flucht des mutmaßlichen NSU-Kerntrios im Frühjahr 1998 um ein »kontrolliertes« Abtauchen gehandelt habe.
Aussagen vor den Untersuchungsausschüssen belegten,
daß Polizisten von ihren Vorgesetzten daran gehindert wurden, die Gruppe zu fassen.
Die Rede von »außer Kontrolle geratenen V-Leuten«
unterschlage den größeren Zusammenhang, sagte Funke mit Blick auf die zahlreichen Informanten im Umfeld des NSU.
Roland Jahn fragte: »Brauchen wir einen Geheimdienst, der die Bürger nicht schützt?«
Auch er wollte die rassistische Mordserie des NSU nicht nur auf den »verordneten Antifaschismus« der DDR schieben.