Moshe Zuckermann, Wider den Zeitgeist I. Aufsätze und Gespräche über Juden, Deutsche, den Nahostkonflikt und Antisemitismus

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Moshe Zuckermann
& die antizionistisch/antisemitische "Junge Welt"

die beiden, nun oben stehenden hier folgenden Angaben,
befanden sich im orginal unter dem Artikel

Moshe Zuckermann,
Wider den Zeitgeist
I. Aufsätze und Gespräche
über Juden, Deutsche, den Nahostkonflikt und Antisemitismus,
Laika Verlag, Hamburg 2012,
256 S., brosch., 21 Euro.
Erscheint in diesen Tagen, dann auch im jW-Shop erhältlich

Buchvorstellung mit dem Autor
am Donnerstag, 18. Oktober, 19 Uhr
in der jW-Ladengalerie (Torstr. 6, Berlin-Mitte),
Eintritt 5, ermäßigt 3 Euro.
Voranmeldung unter mm@jungewelt.de
oder 030/53 63 55-56 erbeten

10.10.2012 / Thema / Seite 10
Verquere Debatten
»Wider den Zeitgeist.
Über Juden, Deutsche, den Nahostkonflikt und Antisemitismus«

Moshe Zuckermann

In diesen Tagen veröffentlicht der Hamburger Laika Verlag
den ersten von geplanten drei Sammelbänden mit Aufsätzen
des in Tel Aviv lebenden Soziologen und Historikers Moshe Zuckermann.
Darin enthalten sind eine Reihe von Beiträgen, die zuerst in junge Welt erschienen sind
und die sich vor allem mit dem deutsch-jüdischen Verhältnis,
mit den Fragen des Antisemitismus und Antizionismus beschäftigen
– wie auch mit der Sicht auf den Nahostkonflikt
und der Suche nach Auswegen aus der festgefahrenen politischen Situation.
Moshe Zuckermann ist Autor zahlreicher Bücher, darunter »›Antisemit!‹.
Ein Vorwurf als Herrschaftsinstrument« (2010) und »Sechzig Jahre Israel.
Die Genesis einer politischen Krise des Zionismus« (2009).
Deutsche haben an Juden Monströses in weltgeschichtlichem Maßstab verbrochen,
eine Katastrophe, die zur Beschleunigung der Gründung einer nationalen Heimstätte für die Juden im Jahre 1948 führte.
Israel ist aber nicht im luftleeren Raum errichtet worden,
sondern auf einem vom nichtjüdischen Kollektiv der Palästinenser bereits bewohnten Territorium,
ein Besiedlungsakt, der sich als blutiger Territorialkonflikt erweisen sollte:
Er führte im 1948er-Krieg zur nationalen Katastrophe der Palästinenser, der Nakba,
und hält sich bis zum heutigen Tag als Kernproblem des sogenannten Nahostkonflikts am Leben.
Daß die Kolonisierung des Landes durch Juden
in der prästaatlichen Ära der britischen Mandatszeit
als ein vom Zionismus initiierter Vorlauf
auf dem Weg zur künftigen Staatsgründung Israels intensiv betrieben
(von den Palästinensern mithin auch nicht tatenlos hingenommen) wurde,
darf zunächst unerörtert bleiben.
Von gravierender Bedeutung für den hier anvisierten geschichtlichen Zusammenhang war (und ist)
die durch diesen historischen Kausalnexus entstandene Konstellation
von Deutschland–Israel/Juden–Palästina, eine Konstellation,
in der sich seit Jahrzehnten Entscheidendes politisch, wirtschaftlich, psychologisch, gedenkethisch und ideologisch auswirkt – und austobt.

Denn zum einen sah sich die alte BRD
(die DDR war in dieser Hinsicht ideologisch konträr determiniert)
in der Schuld der Juden, fand aber sehr bald den Königsweg der Sühne,
nämlich in deren Materialisierung mittels der Wiedergutmachungsabkommen von 1952
sowie in der damit einhergehenden Verpflichtung »Deutschlands« (bzw. der Deutschen) auf den »Judenstaat« (bzw. die Juden).
Die Frage, warum gerade der nach 1945 in einer vom Kontinent des deutschen Verbrechens fernen Region gegründete Staat,
dessen Bürger zum größten Teil nicht direkte Opfer dieses Verbrechens
bzw. mit diesem weder physisch noch mental in Berührung gekommen waren,
zur Adresse der »Entschädigung« erkoren wurde,
kann nur unter dem Gesichtspunkt der auf allen beteiligten Seiten vorherrschenden Interessen beantwortet werden:
Der zionistische Staat wurde nach der Shoah von den allermeisten Juden gewollt;
die durch ihren Staat vertretenen »Deutschen« wollten
(im Rahmen einer vom Westen als Faktor im Kalten Krieg erstrebten Reintegration der Deutschen in die »Völkergemeinschaft«) zahlen müssen;
der zionistische Staat seinerseits brauchte das Geld der Deutschen,
um seine angesichts bevorstehender Masseneinwanderungen von Juden nach Israel
dringend benötigte Infrastruktur auf- und auszubauen.

Und so begründete sich die sehr bald nach Auschwitz vorgenommene Materialisierung der Sühne
schlicht und ergreifend zweckrational – der Tauschwert für den Völkermord erwies sich als Maßstab
für die im Gegenzug zu leistende Anerkennung dessen,
was David Ben-Gurion, Israels erster Premierminister,
als erster (und zwar gerade in Israel) zu verkünden sich bemüßigt sah: das »andere Deutschland«.

»Opfer der Opfer« 
Zum anderen bedeutete, wie gesagt, die zionistische Staatsgründung
(deren offizielle Gewährung von den Abstimmenden in der UNO
nicht zuletzt auch als moralische »Entschädigung« der Juden für den an ihnen begangenen Völkermord verstanden wurde)
die nationale Katastrophe der Palästinenser.
Ungeachtet der Frage, welche geopolitischen Hegemonialinteressen die Blockmächte des Kalten Krieges
bei ihrer Positionierung für oder gegen Israel
(und somit mutatis mutandis für oder gegen die Palästinenser
bzw. jene in der arabischen Welt, die sich als Vertreter palästinensischer Interessen aufspielten) verfolgten,
verdoppelte sich das moralische Problem,
als die Palästinenser kollektiv begannen,
sich selbst für »Opfer der Opfer« zu erachten
und als solche der Weltöffentlichkeit zu präsentieren.
Man mag sich noch so sehr über die Gleichsetzung des Opferstatus mokieren
und jeglichen Vergleich mit Auschwitz von vornherein abschmettern wollen
– wie man es dreht und wendet, das sloganhaft formulierte Selbstbild der Palästinenser
birgt einen historischen Wahrheitskern in sich.
Manche werden geneigt sein, die gesamte zionistische Geschichte in Haft dafür zu nehmen,
mithin 1897 zum entscheidenden Datum zu erheben.
Andere werden die ereignishaft hereinbrechende nationale Katastrophe, also 1948, zum Ausgangspunkt wählen.
Aber niemand wird um das Jahr 1967 herumkommen,
das geschichtliche Datum, an dem die israelische Armee zwar den grandiosen Sieg im Juni-Krieg errang,
mit der Eroberung der palästinensischen Gebiete des Westjordanlands,
des Gazastreifens und Ostjerusalems zugleich aber auch die Voraussetzung dessen schuf,
was sich bis zum heutigen Tag als das völkerrechtswidrige Siedlungswerk
und repressive Regime der palästinensischen Knechtung erhält,
mithin die Geschicke des lebensnotwendigen Friedens zwischen Israelis und Palästinensern materiell wie ideologisch bestimmt.

Deutsche mögen sich bei dieser objektiv entstandenen Geschichtskonstellation vor ein Dilemma gestellt sehen:
Deutsche sind ja an Juden geschichtlich schuldig geworden,
wie denn zionistische Juden Palästinenser zu historischen Opfern der jüdisch-nationalen Selbstbefreiung,
welche nach dem von Deutschen an ihnen begangenen Völkermord im 20. Jahrhundert
zur unabweisbaren Notwendigkeit geworden war, haben werden lassen.
Und da Juden, zumindest im Selbstverständnis
des zionistischen Israels, Israel als historische »Antwort« auf Auschwitz auszugeben pflegen,
ist die Solidarität mit Israel sowohl im ideologischen Sinne einer moralisch erweiterten »Wiedergutmachung« 
als auch im Sinne eines politisch institutionalisierten Shoah-Gedenkens
zur generellen Auflage für Deutsche geronnen.
Solidarität mit Israel also als erkenn- und greifbare Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit.
Wie nun aber damit umgehen, daß das, was als kommode Praxis der ethisch-befindlichen Selbstpurifizierung sich aufzwängt
– Solidarität mit Israel –, zugleich auch die indirekte Absegnung des von den Juden Israels an den Palästinensern Verbrochenen bedeuten muß?
Wird damit nicht auch objektiv ein Verrat an den gegenwärtig real Unterdrückten tendenziell begangen?

Effektive Reinwaschung
So manche in Deutschland instrumentalisieren dieses Dilemma zur Selbstentlastung des »deutschen« Geschichtsgewissens:
Die nazideutschen Verbrechen an den Juden werden dem von israelischen Juden an den Palästinensern Verbrochenen gleich- oder zumindest doch in den Vergleich gesetzt, womit eine Entschuldung Deutschlands und der Deutschen bewirkt werden soll:
Nicht nur Deutsche, auch Juden sind offenbar zu kollektiven Verbrechen fähig, dröhnt es vom rechten deutschen Stammtisch;
aus Opfern sind gestandene Verbrecher geworden, weiß der deutsche Gewissensmensch (süffisant) zu postulieren – und dergleichen mehr buchhalterischer Ideologeme mit unverkennbarer Absicht, Beklemmendes aus deutschen Kollektivbefindlichkeiten zu entsorgen.
Das charakteristisch Perfide daran ist, daß jene, die die palästinensische Opferrealität in dieser aufrechnenden Weise beklagen, dem Schicksal der Opfer und ihrer realen Leiderfahrung gegenüber im Grunde indifferent bleiben.
Sie bedürfen ja gerade der Perpetuierung repressiver israelischer Gewalt gegen die Palästinenser, um wachhalten zu können, worum es ihnen einzig geht:
die effektive Reinwaschung des geschichtsbeschädigten deutschen Gewissens.

Komplementär zu diesem Muster des Umgangs mit besagtem deutschen Dilemma hat sich in den letzten Jahren eine konträre Gesinnungsstruktur herausgebildet, welche sich mittlerweile auf den allgemeinen deutschen Diskurs über die neuralgische Konstellation Deutschland/Israel/Palästina und das aus dieser erwachsene Dilemma besonders fatal auswirkt.
Eine nachvollziehbare, weil historisch berechtigte Skepsis Deutschland gegenüber zeichnete über Jahrzehnte die Grundeinstellung der kritischen Intelligenz der (alten) Bundesrepublik aus:
Ein Land, das zwei Weltkriege und die industrielle Massenvernichtung des europäischen Judentums verursacht hatte, durfte einer nachgeborenen Generation mit einigem Recht nicht geheuer erscheinen, die Gefahr eines deutschen Rückfalls in die Barbarei mußte denn in der Tat ständig hochgehalten werden, damit die Verdrängung dem Dringen latenter Prädispositionen zur Regression in die Barbarei keine (Bei)hilfe leiste.
Das Wirken besorgter Philosophen, Schriftsteller und Künstler in den 1950er, die Empörung revoltierender Studenten in den 1960er Jahren bis hin zum später aufkommenden kämpferischen Schlachtruf »Nie wieder Deutschland!« radikaler Linker waren allesamt beredt-performative Evidenz der Notwendigkeit und realen Wahrung eines kritischen Bewußtseins in Deutschland.

Absurde Gleichsetzungen
Wie aber bereits von Adorno deutlich erkannt, birgt selbst kritisch Emanzipatorisches die Neigung in sich, Gesinnungsinhalt und kritische Form irgendwann ideologisch zu verdinglichen und dies Verdinglichte zum Fetisch geraten zu lassen – womit der emanzipatorische Impuls zumeist entsorgt wird, im häufigeren und schädlicheren Fall gar ins schiere Gegenteil umschlagen mag.
Das widerfuhr bestimmten Strömungen im linken deutschlandkritischen Diskurs, als sie – nachdem der große Impact der alten 68er-Bewegung abgeebbt war – begannen, den Topos der »Wiedergutmachung« in spezifischer Weise zu politisieren, indem sie kurzschlüssige Extrapolationen aus ihrer »Deutschland« negierenden Grundeinstellung zogen:
Da Deutsche an Juden historisch schuldig geworden waren, ist unbedingte Solidarität mit Juden geboten;
da die Juden nach der Shoah eine nationale Heimstätte errichtet haben, ist unhinterfragbare Solidarität mit Israel (und dem Zionismus) gefordert;
da Israel sich in einem zähen Dauerkonflikt mit Palästinensern/Arabern/Muslimen befindet, ist konsequente Feindschaft zu diesen angesagt (der Feind meines Fetischs ist mein Feind) – es ließen sich weitere Ableitungen ähnlicher Art anführen, die u. a. begründen sollen, warum man (aus der Logik der »Deutschland«-Negation und Juden-Israel-Solidarität) einem Proamerikanismus frönen muß und – damit einhergehend – den Antikapitalismus zu bekämpfen hat.
Aber diese mögen hier unerörtert bleiben.
Der freischwebenden ideologischen Assoziation sind ja keine Grenzen gesetzt.
Von besonderer Bedeutung für den hier erörterten Zusammenhang ist indes ein anderes Ideologem, welches die Transformation von ursprünglich emanzipatorisch Bewegtem in ein Instrument denunziatorischer Perfidie und verlogener Polemik mit erschreckend effektiver Auswirkung vollzogen hat:
die aus dem Grundpostulat der »Deutschland«-Negation extrapolierte Gleichsetzung von Judentum, Zionismus und Israel und die damit verschwisterte Gleichsetzung von Antisemitismus, Antizionismus und Israel-Kritik.

Es mag mehr als verwundern, mit welcher Unbekümmertheit man inzwischen diese Gleichsetzung von Antisemitismus, Antizionismus und Israel-Kritik vollzieht, als hätte man, wenn man sich mit den Begriffen auseinandersetzte, nicht schon längst wissen müssen, daß es sich um unterschiedliche Kategorien handelt, deren austauschbare Verwendung nicht nur in der Sache selbst unhaltbar ist, sondern leicht auch in verleumderische Praxis und gestandene Rufschädigung ausarten kann.
Allein die Tatsache, daß nicht alle Juden Zionisten, nicht alle Zionisten Israelis, und nicht alle Israelis Juden sind, müßte eigentlich erhellen, daß man sehr wohl Jude, dabei aber auch nicht- bzw. antizionistisch und auch israelkritisch eingestellt sein kann, ohne deshalb schon antisemitisch zu sein;
daß man jüdischer Zionist, aber gerade deshalb auch israelkritisch sein kann;
daß man Israeli, ohne Jude zu sein und ohne sich für zionistisch zu erachten, sein kann, aber durchaus auch als jüdischer Israeli nicht- und sogar antizionistisch argumentieren darf.
Wenn man also den Vorwurfsbegriff »antizionistischer Antisemit« mit dem Argument verwendet, man habe jemanden nicht als Antisemiten apostrophiert, sondern seinen Antisemitismus in Zusammenhang mit seinem Antizionismus gesehen, dann verhält man sich im besten Fall scheinheilig, im Grunde aber hinterhältig.
Denn entweder handelt es sich darum, dem Angeschuldigten Antisemitismus zu unterstellen, ohne sich aber zu trauen, die rigorose Bezichtigung »pur« zu vollziehen, weil der Nachweis nur schwer zu erbringen wäre, und legitimiert deshalb das sich Verbietende mit »Antizionismus« (in welchem Fall Antisemitismus mit Antizionismus gleichgesetzt wäre).
Oder aber man meint wirklich, mit »antizionistischer Antisemit« eine spezifische Spielart des Antisemitismus zu benennen, was aber, wie dargelegt, in der Sache selbst nur bedingt, wenn überhaupt, haltbar ist:
Will man etwa behaupten, alle orthodoxen und ultraorthodoxen Juden, die aus ihrem genuin jüdischen Selbstverständnis heraus dezidiert antizionistisch sind, seien latent, vorbewußt oder sonstwie antisemitisch?
Will man allen Ernstes behaupten, die antizionistischen Bundisten (etwa Widerständler im Warschauer Ghetto wie Marek Edelman) seien Antisemiten gewesen?
Will man überhaupt all den Juden, die, ohne religiös-orthodox oder kommunistisch zu sein, mit Israel und dem Zionismus nichts im Sinne haben, schon deshalb unterschwelligen Antisemitismus unterstellen?
Wer so denkt, verzerrt nicht nur große historische Debatten, die sich innerhalb des Judentums in bezug auf den Zionismus zugetragen haben, sondern macht sich auch für die gegenwärtige historische Realität blind, in der sich ein Großteil des jüdischen Volkes offenbar entschieden hat, nicht in Israel zu leben, also dem Zentralpostulat des politischen Zionismus keine praktische Folge zu leisten.
Ob die »diasporischen« Juden dabei zionistisch, nicht- oder antizionistisch eingestellt sind, spielt eine eher untergeordnete Rolle.
Viele israelische Juden pflegen gerade die Israel-Liebe der Zionisten-aus-der-Ferne milde zu belächeln.

Zwischen Kommen und Gehen
In diesem Zusammenhang zeichnen sich die in Deutschland lebenden Juden durch eine Sonderlage aus.
Denn bis in die 1980er Jahre hinein war ihre Einstellung zu Deutschland (bzw. zur alten Bundesrepublik) einigermaßen homogen:
Holocaust-Überlebende aus Europas Osten, die sie großteils waren, erachteten sie ihr Dasein in Deutschland für ein temporäres »Sitzen auf Koffern«;
eine latente Schuld schwang in ihrer Lebenssituation mit, nach der Katastrophe im Land der Täter geblieben oder gar in dieses Land nachträglich eingewandert zu sein.
Das änderte sich mit Ignatz Bubis, ab 1997 Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland, der bereits Mitte der 1980er Jahre nicht müde wurde zu verkünden, jüdisches Gemeindeleben möge in Deutschland wieder erblühen.

Dies bedeutete nicht zuletzt, daß die angestammte jüdische Indifferenz gegenüber öffentlichen Belangen der BRD aufgehoben werden müsse, eine Wandlung, die vor allem innerhalb der »zweiten Generation« Fuß fassen sollte.
Was aber als ein emanzipatives Moment der in Deutschland lebenden Juden gedeutet werden mochte, erwies sich, vor allem bei jüdischen Führungspersonen, als Faktor gestandener Schizophrenie, welche bis zum heutigen Tag anhält, ja nachgerade ideologischen Status erlangt hat:
Zum einen sind die Juden nunmehr angehalten, Treue zu Deutschland zu demonstrieren, nicht zuletzt, um Ausgrenzungsbestrebungen entgegenzuwirken, wenn man ihnen etwa zum israelischen Unabhängigkeitstag gratuliert und sie bittet, die Gratulation an »ihren Staatspräsidenten« weiterzuleiten (wie es Bubis widerfuhr).
Zum anderen proklamieren sie aber, Israel sei ihre »geistige Heimat« bzw., wie von Ralph Giordano mit Emphase apostrophiert, ihr »Mutterland«.
Man kann diese Gespaltenheit durchaus nachvollziehen;
es ist wie bei dem von Georg Simmel als solchen charakterisierten Fremden:
Nicht mehr der Wandernde, der heute kommt und morgen geht, sondern der, der heute kommt und morgen bleibt, »sozusagen der potentiell Wandernde, der, obgleich er nicht weitergezogen ist, die Gelöstheit des Kommens und Gehens nicht ganz überwunden hat«.
Zum Problem wird dieser Ambivalenzzustand, wenn er opportunistisch instrumentalisiert wird, und zwar unter inflationärer Verwendung des Antisemitismus-Vorwurfs:
Antisemit ist der, der Bubis zum Unabhängigkeitstag »seines Heimatlandes« Israel gratuliert.
Antisemit ist aber auch der, der Giordanos »Mutterland« Israel kritisiert.
Man kann ja den Kuchen essen wollen und ihn zugleich ganz behalten.
Zumindest sollte man aber dann fähig sein, sich Rechenschaft darüber abzulegen, daß man Unmögliches anstrebt – dringlicher noch:
reflektieren, daß man gerade in dieser verqueren Kompensation des eigenen lebensgeschichtlichen Defizits den Begriff des Antisemitismus nach und nach aushöhlt.

Bringt aber die konstruierte Affinität von Antisemitismus und Antizionismus einem Nichtjuden leicht den Antisemitismus-Vorwurf ein (und es muß ja gar nicht geleugnet werden, daß diese Affinität Bestand haben kann), so muß man sich bei einem Juden diesbezüglich eher vorsehen.
Für diese ideologische Anstrengung hat man sich denn spezifisches Rüstzeug zugelegt:
Man bedient sich unbeschwert der Nomenklatur des »jüdischen Selbsthasses« bzw. des »jüdischen Antisemiten«.
Zum »jüdischen Antisemiten« ist hier schon genug gesagt worden.
Besonders prekär wird es aber, wenn man »jüdischen Selbsthaß« bemüht.
Denn wer sich psychologischer Kategorien in diesem Zusammenhang bedient, muß sich auch psychologische Entgegensetzungen gefallen lassen.
Und so wäre zu fragen, ob die Unterstellung von »Selbsthaß« anderen Juden gegenüber nicht letztlich von einer unbewältigten eigenen narzißtischen Kränkung herrührt, die – nicht bewußt gemacht – auf Juden, welche dem eigenen Selbstbild nicht entsprechen, als »Selbsthaß« projiziert wird. Der Zionist (auch der Zionist-aus-der-Ferne), der den Vorwurf nicht ertragen kann, daß der israelische Staat (nicht zuletzt in seinem Namen) Verbrechen begangen habe, wird sich leicht der Auseinandersetzung mit dieser Möglichkeit versperren;
seine eigene Psyche wird keinen anderen Schluß zulassen als den, daß der zionismus- bzw. israelkritische Jude von »Selbsthaß« erfaßt sei.
Dies enthebt ihn quasi der kritischen Auseinandersetzung mit dem eigenen kollektiven Selbst und bietet ihm zudem die psychisch verkraftbare Möglichkeit, Andersdenkende im eigenen Kollektiv zum Objekt pathologischer Unzulänglichkeit zu machen und diffamierend auszugrenzen.

Notwendige Anklage
Was nun aber, wenn die einst auch als Tugend hochgehaltene traditionelle jüdische Selbstkritik (und Selbstironie),
die im jüdischen (israelischen wie nichtisraelischen) Kritiker Israels fortlebt,
einer tiefen Sorge um die moralische Integrität des Landes,
nicht minder aber auch um seine ­existentielle Zukunft entstammte?
Was, wenn das brutale Okkupationsregime, das Israel seit über vierzig Jahren betreibt,
nicht nur aus human-­moralischen Gründen für unerträglich erachtet wird,
sondern die Fortsetzung der Besatzungspraxis als Bedrohung einer objektiv entstehenden binationalen Struktur gerade von israelischen Zionisten,
die einer Zweistaatenlösung das Wort reden,
als Gefährdung des gesamten zionistischen Projekts angesehen wird?
So jedenfalls wird mittlerweile die »demographisch tickende Zeitbombe« 
von den höchsten Funktionsträgern der israelischen politischen Klasse gedeutet,
denen wohl niemand »Selbsthaß« wird vorwerfen wollen.
Nicht zu leugnen ist, daß der Staat Israel eine menschenrechtsverletzende Politik betreibt.
Wer das nicht sieht, ist entweder ignorant, ideologisch verblendet
oder hat einen unverantwortlich elastischen Begriff von Menschenrechtsverletzung.
Der Aufschrei von Juden dagegen läßt sich in eine lange humanistische Tradition einreihen,
die aus der jüdischen Verfolgungsgeschichte genau die emanzipatorisch-kritische Konsequenz gezogen hat, daß solcherlei Unrecht keinem Kollektiv auf der Welt zu keiner Zeit widerfahren dürfe – ganz gewiß nicht aus der Hand von Juden.
Kein »Selbsthaß« unterliegt der vehementen Verurteilung solcher Menschenrechtsverletzungen,
sondern die tiefe Scham und die Wut darüber, einem Kollektiv anzugehören,
dem man sich verbunden fühlt und das solches verbricht.
Daß dabei eine spezifisch jüdische Idiosynkrasie mit im Spiel sein mag,
sollte als Tugend, nicht als Pathologie gedeutet werden:
Wenn jüdische Israelis »Tod den Arabern!« brüllen,
dann tun sie es nicht als Israelis (denn sie leben ja in einer Gesellschaft, die 1,3 Millionen israelische Araber zu ihren Bürgern zählt),
sondern als in Israel lebende Juden.
Wenn aber ihr jüdisches Selbstverständnis sie in eine solche Verhetzungspraxis treibt,
dann sind das eben jüdische Vergehen, die von jedem anständigen Menschen,
mithin von jedem integren Juden bekämpft werden müssen.
Und was für den innerisraelischen Gesellschaftszustand gilt,
gilt allemal für die Okkupationsrealität in den besetzten Gebieten.